betroffen.at

Plattform Betroffene kirchlicher Gewalt

in Allgemein

Wir sind die erste und einzige unabhängige Anlaufstelle von Betroffenen für Betroffene kirchlicher Gewalt

Wir helfen Menschen die sexueller oder körperlicher Gewalt durch kirchliche MitarbeiterInnen ausgesetzt waren und sind. Weiters wollen wir der Vertuschung kirchlicher Einrichtungen entgegenwirken und die Bevölkerung über die Methoden der Täter und deren Auswirkungen aufklären, um unsere Kinder vor zukünftigen Übergriffen bestmöglich zu schützen.

  • Vertrauliche Anlaufstelle für Betroffene.
  • Erstberatung und Vermittlung von psychotherapeutscher Betreuung.
  • Vernetzung von Betroffenen.
  • Aufbau eines Dokumentationsarchivs.
  • Regelmäßige Veranstaltungen und Aktionen.
  • Aufklärung und Medienarbeit

 

Humanist, Aufklärer, Kalenderforscher: Sepp Rothwangl ist tot 

in Pressemeldungen

Sepp Rothwangl
27.09.1950 – 18.01.2024

Sepp war viel. Großer und leidenschaftlicher Waldbauer im Mürztal. Aktivist für Säkularisierung. Zentraler Kämpfer für die Aufarbeitung kirchlicher Missbrauchsfälle. Früh verlor er seinen Vater. Seine Mutter meinte es gut mit ihm und schickte ihn nach Graz in ein katholisches Internat. Eine Entscheidung, die das Leben von Sepp maßgeblich tangierte. Er wurde Opfer sexualisierter Gewalt durch einen Priester. Zeit seines Lebens blieb dies eine offene Wunde für ihn – die manchmal mehr, manchmal weniger blutete. 

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Erneut schwerwiegender Missbrauchsskandal in einer Abtei in der Westschweiz aufgedeckt

in Missbrauch, Schweiz


Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Radio Télévision Suisse (RTS) hat einen schwerwiegenden Missbrauchsskandal in der Augustiner-Chorherren-Abtei Saint-Maurice im Kanton Wallis, Schweiz, aufgedeckt. Neun Geistliche, darunter der ehemalige Abt Jean César Scarcella und sein Nachfolger Abt Roland Jaquenoud, werden mit sexuellem Missbrauch in Verbindung gebracht. Die Vorwürfe kamen im Zuge von Ermittlungen des Vatikans, die nach Anschuldigungen gegen Abt Scarcella eingeleitet wurden. Opferaussagen deuten darauf hin, dass der Missbrauch über einen langen Zeitraum stattfand. Sowohl Abt Scarcella als auch Abt Jaquenoud traten zurück, und ein Vertreter des Vatikans wird die Führung der Abtei übernehmen. Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen eingeleitet, und Voruntersuchungen fanden im Kloster statt.

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Der Mann, der Merkel täuschte

in Deutschland, Medienberichte, Missbrauch, Politik, Pressemeldungen

Warum kommt die katholische Kirche nicht aus dem Missbrauchsskandal heraus? Die Erklärung findet sich in dramatischen Tagen Anfang 2010. Wie Deutschlands oberster Bischof Robert Zollitsch eine staatliche Aufklärung vereitelte – und wie eine Entscheidung der Kanzlerin bis heute nachwirkt.

Der Mann, der in den folgenden Wochen die Aufarbeitung monströser Verbrechen verhindern wird, steht am Verkaufswagen auf dem Münsterplatz und wartet auf seine Wurst. Mit oder ohne Zwiebeln, das ist die Frage, wenn man sich in Freiburg eine Münsterwurst kauft, aber in dem kurzen Film auf dem YouTube-Kanal des Erzbistums Freiburg aus dem Februar 2010 ist nicht zu erkennen, wie er sich entscheidet. Nur Wurst, Wecken und Einwickelpapier sieht man. Der Mann, schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, weißer Priesterkragen, nimmt das Essen entgegen. Er beißt ab.

Der kurze Film präsentiert einen, der bodenständig auftritt trotz seiner Position: Robert Zollitsch, damals 71 Jahre alt, Erzbischof von Freiburg, Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Er sagt in die Kamera, dass hier im Münster demnächst die Bischöfe aus dem ganzen Land Gottesdienste feiern werden, wenn sie erstmals ihre Vollversammlung in Freiburg abhalten. Er will glänzen in seiner Stadt. Er erzählt von der südbadischen Gastfreundlichkeit, von der Universität, von den Bächle, jenen kleinen Wasserläufen in der Innenstadt. Zollitsch schwärmt: „In Freiburg fängt Italien an.“

Doch in diesem Moment, im Februar 2010, rollt auf den Vorsitzenden und seine Kirche gerade ein gewaltiger Skandal zu. Schüler des katholischen Canisius-Kollegs in Berlin hatten kurz zuvor den Mut, zu enthüllen, dass sie von Jesuitenpatres sexuell missbraucht wurden. Der Rektor Pater Klaus Mertes glaubte ihnen. Es gab eine Pressekonferenz an dem Gymnasium, seither haben Menschen in ganz Deutschland berichtet, was ihnen angetan wurde: Geistliche begrapschten, quälten und vergewaltigten Kinder und Jugendliche.

Dieser Skandal türmt sich vor der Versammlung der Bischöfe in Freiburg auf wie eine Gewitterfront. Unter den Bischöfen igeln sich manche ein, andere ärgern sich über Pater Mertes, sehen in ihm einen Nestbeschmutzer. Man will auch was tun, agieren, nicht reagieren. Der Sekretär der Bischofskonferenz, Pater Hans Langendörfer, sagt: „Wir ducken uns nicht weg, sondern wir wollen die Aufklärung.“

Aufklärung, natürlich. Die Frage ist, was man darunter versteht. Betroffene erzählen damals ihre Geschichten. Anders als vorher wird ihnen geglaubt, die Öffentlichkeit nimmt sie ernst. Nur liegt es im Februar 2010 noch jenseits der Vorstellung der Kirchenchefs, dass Außenstehende hinter die Mauern ihrer Büros schauen. Dass Fremde Personalakten sichten, Gesprächsprotokolle auswerten oder gar die besonders geheimen Giftschränke öffnen. Wer hat Taten vertuscht? Welcher Personalchef hat Täter in eine andere Pfarrei versetzt und riskiert, dass er dort weiter Kinder missbraucht? Was wusste der jeweilige Bischof? Diese Fragen müssen Kirchenhierarchen heute immer wieder beantworten – peinlich genau, auch gegenüber Gutachtern, die sie notgedrungen selbst beauftragten, erst viele Jahre später. Aber 2010 ist das Thema in Deutschland neu, auch in der Politik. „Es war einfach eine kribbelige Situation, was mit Kirchen los war“, so beschreibt die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan in der Rückschau die Stimmung.

Anfang 2010 beginnen entscheidende Tage. Mehr als 13 Jahre ist das nun her. Mehr als 13 Jahre zieht sich der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche schon hin. Jahr um Jahr kommt Neues hoch, sexualisierte Gewalt und ihre Vertuschung werden an neuen Orten enthüllt, mit anderen handelnden Personen. Immer geht es auch darum, wie Bischöfe und ihre Mitarbeiter abwiegelten, Täter deckten oder sich nicht um Betroffene scherten. Immer wieder kommt die Frage auf, warum die Aufarbeitung so lange dauert. Wieso hat der Staat sie nicht erzwungen? Weshalb darf die Kirche die Aufarbeitung selbst in der Hand behalten?

Um neu aufzurollen, was 2010 gelaufen ist, hat Christ&Welt Bischöfe und Kirchenfunktionäre befragt sowie alle drei damals involvierten Bundesministerinnen. Zollitsch lehnte ein Interview über seinen Rechtsvertreter ab. Auch die frühere Kanzlerin Angela Merkel ließ ihre Büroleiterin absagen. Für die Recherche ausgewertet wurden Unterlagen des Kanzleramts und ein dieses Jahr erschienenes Freiburger Aufarbeitungsgutachten im Auftrag einer Kommission beim Erzbistum; dazu Pressemitteilungen, Zeitungsberichte und Fernsehsendungen. Natürlich ist der Wissensstand heute ein anderer, aber es ist eben auch die Gegenwart, die bis heute von den Ereignissen 2010 beeinflusst wird – und vom Handeln dreier Personen: Erzbischof, Kanzlerin und Justizministerin.

Da ist Zollitsch, der Mann mit der Bratwurst, der sich gern bescheiden gibt. Er trägt oft Baskenmütze statt Bischofsmitra, hat es eigentlich nicht nötig, laut zu werden, denn er sieht sich in einer Liga mit der Kanzlerin. Er ist Erzbischof, ein Mann der Geistlichkeit, ein Hirte und Seelsorger – doch das täuscht über seine andere Rolle hinweg: Er ist Akteur der Bundespolitik und kein unbedeutender. Wenn er im Herbst einlädt zum katholischen Sankt-Michaels-Empfang in Berlin, kommt die Kanzlerin persönlich.

Der Erzbischof gilt damals als kirchenpolitisch liberal, als seriöser Finanzfachmann; das sind ideale Voraussetzungen für den obersten Lobbyisten einer Kirche mit damals noch knapp 25 Millionen Mitgliedern und knapp fünf Milliarden Euro Einnahmen allein aus Kirchensteuern. All das macht ihn zu einem Berliner Player erster Ordnung – und, wie man heute weiß, einem Täuscher in der ersten Reihe.

Doch erst im April 2023 wird ein fast 600 Seiten langes Gutachten im Auftrag einer vom heutigen Erzbischof berufenen Kommission ergeben, dass Zollitsch reihenweise Missbrauchsfälle vertuschte und Täter heimlich versetzte, ohne sie zu bestrafen. Zunächst, von 1983 bis 2003, war er Personalreferent in Freiburg. Der damalige Erzbischof Oskar Saier ließ ihn die Missbrauchsfälle eigenständig regeln: „Robert, erledige du das!“, wird dieser im Gutachten zitiert. Weil Zollitsch 2003 Saier nachfolgte, konnte er die Vertuschung als Bischof fortsetzen. Die Gutachter werfen ihm sogar die Beseitigung von Akten vor. Sie kritisieren „weitgehende Rechtsignoranz“. Sie sehen eine „manifeste, vertuschungsgeprägte antijuridische Haltung des Erzbischofs Dr. Zollitsch im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen gegen Kleriker.“

Nichts davon dürfte im Februar 2010 jene Frau geahnt haben, auf die Zollitsch bei seinen Manövern in den nächsten Wochen dringend angewiesen sein wird: Angela Merkel. Sie ist verwundbar, denn in dieser Zeit ist die katholische Kirche noch viel tiefer in CDU und CSU verankert als heute. Und manchmal wirkt es, als müssten sich die Parteien das C bei den Bischöfen verdienen. Die Kanzlerin, evangelische Pfarrerstochter, muss achtgeben. Im Jahr zuvor hat sie Katholiken in ihrer Partei erzürnt, weil sie Papst Benedikt unverblümt kritisiert hatte – wegen dessen Umgang mit der ultrakonservativen Piusbruderschaft und dem Holocaust-Leugner Bischof Richard Williamson.

Merkel, die Protestantin, möchte als CDU-Chefin und Kanzlerin die Bischofskonferenz auf ihrer Seite haben. Der Katholizismus gehört zum Kohl’schen Erbe, das sie für die Union sichern muss. Und die Macht, die die Bischöfe der CDU leihen können, die will Merkel 2010 auch für sich haben. Insofern ist der Ärger um die Piusbrüder eine Irritation, ein Ausrutscher, der auch rausfällt aus der Logik der Kanzlerin: Sie schafft sich lieber Verbündete als Gegenspieler, sie moderiert Konflikte, statt Probleme zu fokussieren.

Nicht zu diesem Stil Merkels passt die Geschichte ihrer Justizministerin in der schwarz-gelben Regierung: Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat unter Kohl einen Konflikt ausgereizt. Sie war auch da Justizministerin, ein Profi, doch als es 1995 um den Großen Lauschangriff ging, der der Polizei das Abhören von Wohnungen erlauben sollte, gab die FDP dem Drängen der Union nach. Leutheusser-Schnarrenberger trat aus Protest zurück. Sie ging den ganzen Weg. Es rumste.

Der Erzbischof spricht den Missbrauchsskandal an

2010 kommt wieder ein Moment, in dem sie Haltung zeigt angesichts der Verbrechen, die Priester an Kindern und Jugendlichen begangen haben. Leutheusser-Schnarrenberger, evangelisch, legt sich mit Zollitsch an. Doch der eskaliert den Streit, telefoniert mit der Kanzlerin und konterkariert die Pläne der Ministerin. Die Rekonstruktion von Christ&Welt ergibt, wie es Zollitsch gelungen ist, den Staat aus der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals herauszuhalten, vor und hinter den Kulissen. Erst fuhr er einen beispiellosen öffentlichen Entlastungsangriff. Dann lancierte die Bischofskonferenz mithilfe das Kanzleramts einen Runden Tisch, der ein konkurrierendes Vorhaben der Justizministerin verdrängte und an dem die Kirche unbehelligt von fremder Aufarbeitung blieb.

Und heute, 13 Jahre später, sagt Leutheusser-Schnarrenberger: „Die Aufarbeitung des Missbrauchs ist keine Erfolgsgeschichte.“ Wie es dazu kam, soll hier rekonstruiert werden, jene Wochen, als sich entschieden hat, wie die Kirche mit der Gewitterfront umgehen würde, die auf sie zurollt vor ihrer Versammlung in Freiburg im Februar 2010.

Umgang mit Missbrauch: Druck auf EKD-Chefin Kurschus wächst

in Allgemein

Im Fall einer möglichen Vertuschung von sexueller Belästigung durch einen evangelischen Kirchenmitarbeiter wächst der Druck auf die EKD-Ratsvorsitzende, Annette Kurschus. Möglicherweise war einer der mutmaßlichen Betroffenen noch minderjährig.

Einem Mitarbeiter der evangelischen Kirche werden sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Nun steht zunehmend auch der Umgang der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland mit dem Fall in der Kritik. Berichte der „Siegener Zeitung“ legen nahe, dass Annette Kurschuss seit langem über die Missbrauchsvorwürfe gegen den Kirchenangestellten Bescheid wusste. Möglicherweise war sogar ein Minderjähriger von den Übergriffen betroffen.

EKD-Chefin will erst 2023 von Vorwürfen erfahren haben

Bei der EKD-Synode in Ulm hatte die Ratsvorsitzende am Dienstagabend beteuert, erst Anfang dieses Jahres durch eine anonyme Strafanzeige von den Vorwürfen erfahren zu haben. „Vorher hatte ich keine Kenntnis“, sagte Kurschus und kritisierte die „Siegener Zeitung“ dafür, „Andeutungen und Spekulationen“ zu verbreiten. Und: „Ich bin entsetzt und wütend, aktuell so furchtbare Schilderungen über eine Person zu erfahren, von der ich bislang nur ein anderes Gesicht wahrgenommen hatte“.

Mutmaßlicher Betroffener war möglicherweise minderjährig

Wie die „Siegener Zeitung“ nun berichtet, sei einer der mutmaßlichen Betroffenen zum Tatzeitpunkt möglicherweise erst 13 Jahre alt gewesen. Dies habe die zuständige Staatsanwaltschaft Siegen der Zeitung bestätigt.

Nach bisherigem Ermittlungsstand war nur bekannt, dass der Kirchenmitarbeiter im Kirchenkreis Siegen, wo Annette Kurschus lange Pfarrerin war, sexuelle Übergriffe gegenüber jungen volljährigen Männern begangen haben soll. An der Glaubwürdigkeit der Zeugen zweifeln nach Darstellung der Zeitung weder Staatsanwaltschaft noch die evangelische Kirche.

Staatsanwaltschaft befragt weitere Zeugen

Es sei noch nicht klar, ob die aufgekommenen Vorwürfe strafrechtlich relevant seien. Laut Staatsanwaltschaft sind weitere Befragungen geplant, unter anderem eines Mannes, der ebenfalls Anschuldigungen erhoben habe und dessen Alter „stutzig“ mache, zitiert die Siegener Zeitung Patrick Baron von Grotthuss, den Sprecher der Staatsanwaltschaft.

Berücksichtige man das Alter des Mannes sowie den mutmaßlichen Tatzeitraum, so „reden wir hier möglicherweise von einem zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Taten minderjährigen Betroffenen“.

EKD-Chefin bleibt bei ihrer Aussage

Ein Sprecher der westfälischen Landeskirche, der Kurschus als Präses vorsteht, sagte am Donnerstagabend der Katholischen Nachrichtenagentur mit Blick auf die Erklärung der EKD-Chefin vom Dienstag: „Ihr ist nichts hinzuzufügen.“ Kurschus bleibt also weiterhin bei ihrer Aussage.

Zeugen schildern den Sachverhalt anders

Dem steht ein Bericht der Siegener Zeitung vom Mittwoch gegenüber, laut dem zwei Personen eidesstattlich versichert haben, Kurschus habe bereits Ende der 1990er Jahre bei einem Gespräch in ihrem Garten von den Vorwürfen gegen den Kirchenmitarbeiter erfahren. Kurschus hatte am Dienstag erklärt, dabei sei zwar die sexuelle Orientierung eines inzwischen des Missbrauchs beschuldigten Kirchenmitarbeiters, „aber zu keiner Zeit der Tatbestand sexualisierter Gewalt thematisiert worden“.

Die Zeitungsredaktion gibt überdies an, einen Brief des Beschuldigten eingesehen zu haben, in dem dieser zwei Teilnehmern rechtliche Schritte wegen der erhobenen Beschuldigungen androht. Er beziehe sich in dem Schreiben explizit auf das Gespräch im Garten von „Annette“. Zudem soll Kurschus Patentante eines der Kinder des Beschuldigten sein, wie die Zeitung berichtet.

Kommission: Womöglich 200.000 Missbrauchsopfer durch Geistliche in Spanien

in Deutschland, Spanien
In Spanien könnten einem Bericht einer Untersuchungskommission zufolge in vergangenen Jahrzehnten mehr als 200.000 Menschen als Minderjährige von katholischen Geistlichen sexuell missbraucht worden sein. Die unabhängige Kommission veröffentlichte am Freitag ihre Untersuchungsergebnisse zur Pädokriminalität in der katholischen Kirche in Spanien.Der Bericht nennt keine genauen Zahlen, die Schätzung basiert aber auf einer Umfrage unter 8000 Menschen. Hochgerechnet gaben demnach 0,6 Prozent der 39 Millionen Erwachsenen in Spanien an, als Minderjährige von Geistlichen sexuell missbraucht worden zu sein. Somit könnten mehr als 200.000 Menschen betroffen gewesen sein, hieß es. Die Fälle stammen den Angaben zufolge vor allem aus dem Zeitraum zwischen 1970 und 1990.In dem Bericht wird auch das Verhalten der katholischen Kirche kritisiert. Ihre Reaktion auf Fälle von Pädokriminalität durch Geistliche sei „unzureichend“ gewesen. Vorgeschlagen wird unter anderem, einen Fonds durch den Staat einzurichten, um den Opfern Entschädigungen zu leisten.
Im Gegensatz zu Deutschland, Frankreich, Irland und den Vereinigten Staaten gab es im stark katholische Spanien bislang noch keine unabhängige Untersuchung dieser Art. Weltweit wurde die katholische Kirche bereits von einer Reihe von Skandalen zu sexuellem Missbrauch erschüttert.

Papst Pius XII. und der Holocaust

in Allgemein, Deutschland, Medienberichte, Politik, Pressemeldungen

Brief im Vatikan aufgetauchtPapst Pius XII. und der Holocaust

Stand: 08.10.2023 11:16 Uhr

Seit Jahrzehnten beschäftigt nicht nur die katholische Kirche die Frage, was Papst Pius XII. vom Holocaust wusste – und warum er sich nicht energisch dagegen stellte. Ein Brief schafft nun Klarheit.

Es ist ein vergilbtes Blatt Papier, eng beschrieben mit einer Schreibmaschine. Ein Brief, datiert auf den 14. Dezember 1942, der vor kurzem gefunden wurde in den päpstlich-vatikanischen Archiven. Und der eine neue Antwort gibt auf die seit Jahrzehnten diskutierte Frage: Was wusste Papst Pius XII. von den Verbrechen in Nazi-Deutschland?

Dieser Brief, sagt Giovanni Coco, sei so bedeutsam, weil „er der einzig verbliebene Beleg eines Schriftwechsels zwischen dem Sekretariat Pius XII. und dem deutschen Widerstand“ sei.

Coco sitzt in einem Nebenraum der Archive am Belvedere-Hof vor den Vatikanischen Gärten. Der Archivar und Historiker hat den mehr als 80 Jahre alten Brief entdeckt. Ein Dokument, in dem der Vatikan darüber informiert wurde, dass täglich die Leichen von 6.000 Menschen, vor allem Juden und Polen, vernichtet werden in den SS-Verbrennungsöfen in der Nähe von Rawa Rus‘ka, also im Vernichtungslager Belzec. Auch Auschwitz wird erwähnt.

Nachricht „aus dem Inneren des Dritten Reiches“

Die alarmschlagende Botschaft im Schreiben an das Sekretariat von Papst Pius: Die Nazis machten „tatsächlich ernst“ mit der Ausrottung der Juden und Polen. „Es ist eine Stimme aus dem Bauch des Drachens“, sagt Coco. Sie komme direkt aus „dem Inneren des Dritten Reichs“, mit Informationen, die im Widerstand kursierten. Der Vatikan-Archivar betont: „Diese Informationen, darüber haben wir nun Gewissheit, gelangten bis zu den Ohren des Papstes.“

Geschrieben ist der brisante Brief vom deutschen Jesuitenpater Lothar König, ein enger Bekannter des damaligen persönlichen Sekretärs von Papst Pius, Robert Leiber. König war für den bürgerlichen Widerstandszirkel Kreisauer Kreis tätig als eine Art Kurier und Verbindungsmann zum Vatikan. Sein Brief aus dem Dezember 1942 lag nach Pius‘ Tod jahrzehntelang unentdeckt im Vatikan.

Bis 2019, unter Papst Franziskus, aus dem Staatssekretariat große Mengen an Dokumenten aus der Zeit des Papstes, der die katholische Kirche im Zweiten Weltkrieg führte, den vatikanischen Archiven zur Verfügung gestellt wurden. Ungeordnet und durcheinander.

Archivar Coco machte sich an die Arbeit – bis ihm das brisante Papier in die Hände fiel. Der Brief sei ihm aufgefallen, erklärt Coco, „weil er nicht mit vollständigem Namen unterzeichnet war. Sondern mit ‚euer Lothar'“. Auch die Anrede „Lieber Freund“ haben ihn aufhorchen lassen: „Das gab den Anstoß, diesen Brief genauer zu lesen.“

Die Zweifel sind beseitigt

Ein Brief, der keine Zweifel mehr lässt: Papst Pius XII. war gut, war sehr gut informiert darüber, dass die Nazis systematisch und massenhaft Juden ermordeten. „Zu behaupten, dass es wenig Informationen gab oder dass sie wenig glaubhaft waren, ist wirklich schwierig“, sagt der beim Vatikan angestellte Coco. Hier spreche „eine vertrauenswürdige, sehr gut informierte Quelle, der man sehr viel Glauben schenkt“.

Bemerkenswert ist, dass dieser neue Beweis über Pius‘ Wissen der Nazi-Verbrechen direkt und ungefiltert aus dem Vatikan selbst kommt. Dort wurde Brisantes früher gerne zurückgehalten.

Nun aber darf der Finder offen reden. Das Interview mit dem ARD-Studio Rom hat sich Archivar Coco von seinem Vorgesetzten genehmigen lassen – und darf es dann ohne Aufsicht unter vier Augen führen.

Was bedeutet das für die Seligsprechung?

Zu Pius XII. läuft im Vatikan seit mehreren Jahrzehnten ein Verfahren zur Seligsprechung. 2009 wurde die „geschichtliche Phase“ dieses Prozesses abgeschlossen. Der damalige Papst Benedikt XVI. sprach Pius XII. „heroische Tugenden“ zu. Um die Seligsprechung für Pius abzuschließen, ist nach den Regeln der katholischen Kirche jetzt noch der Nachweis eines durch Pius vollbrachtes Wunders notwendig.

Ob das nun gefundene Dokument Einfluss auf das laufende Verfahren zur Seligsprechung von Papst Pius XII. haben wird? Briefentdecker Coco zuckt mit den Schultern: „Ich weiß nicht, ob dieses Dokument da Gewicht haben wird.“ Das liege in der Kompetenz des Dikasteriums für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, sagt Coco und ergänzt: „Zweifellos lässt es uns das geschichtliche Wissen vertiefen – über diesen Mann und seine Zeit.“

Coco weist darauf hin, dass Lothar König, der Kurier des Kreisauer Kreises, in dem Brief auch um Stillschweigen und Vorsicht bittet. Möglicherweise, meint Coco, liege darin eine weitere Erklärung für das öffentliche Schweigen Pius‘ zu den Naziverbrechen.

Missbrauchsstudie Augsburg soll noch in diesem Jahr starten

in Deutschland, Heimkinder, Medienberichte, Missbrauch, Pressemeldungen

Die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wird die Augsburger Missbrauchsstudie noch heuer auf den Weg bringen. Forscher und Betroffene haben den Ansatz gemeinsam entwickelt. Im Fokus stehen nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Familien.

Noch in diesem Jahr soll die geplante Missbrauchsstudie für das Bistum Augsburg beginnen. Das teilte die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) am Mittwoch mit. Die Erhebung „Sexualisierte Gewalt an Minderjährigen im Kontext der katholischen Kirche im Bistum Augsburg“ werde vom LMU-Department Psychologie verantwortet. Der Untertitel der Untersuchung laute: „Psychische Belastung im Lebensverlauf, interpersonelle Faktoren und transgenerationale Effekte“. Die Studie solle die Auswirkungen sexualisierter Gewalt auf das Leben der Betroffenen sowie deren Familien untersuchen.

Augsburgs Bischof Bertram Meier sagte zur LMU-Ankündigung: „Dass die Sichtweise der Betroffenen in dieser Studie im Mittelpunkt stehen soll, dass die Betroffenenvertreter und -vertreterinnen sogar den Ansatz der Studie mitentwickelt haben, ist ein gutes Beispiel wirklicher Partizipation.“ So könne der gesamte Forschungsprozess ein wichtiges Element der notwendigen Aufarbeitung sein.

Forschungsprojekt von Aufarbeitungskommission initiiert

Zur Zielgruppe des Projekts erklärte die LMU alle Personen, die im Bistum Augsburg in ihrer Kindheit oder Jugend im Alter von bis zu 21 Jahren sexuelle Belästigung, Missbrauch oder Gewalt im kirchlichen Umfeld oder durch Geistliche, Ordensleute oder Laien in der Gemeinde erfahren hatten.

Die Initiative für das Forschungsprojekt ging von der Unabhängigen Aufarbeitungskommission und dem Unabhängigen Betroffenenbeirat im Bistum Augsburg aus. Auch der Forschungsansatz wurde gemeinsam entwickelt. Beide Gremien begleiten die wissenschaftliche Erhebung. „Die gewonnenen Ergebnisse werden unabhängig davon, wie sie ausfallen, frei zugänglich veröffentlicht“, so die Universität.

Betroffene und Familienmitglieder werden interviewt

Wenn die Betroffenen jeweils zustimmten, würden auch Partnerinnen und Partner, erwachsene Kinder oder andere nahestehende Personen interviewt. Zusätzlich zu den Interviews im ersten Teil des Projekts sollen die Erkenntnisse laut LMU in einem zweiten Teil durch eine anonyme Online-Befragung ergänzt werden.

Dass es eine eigene Missbrauchsstudie für das Bistum Augsburg geben soll, hatten die Diözese und ihre Unabhängige Aufarbeitungskommission bereits im Januar 2023 erklärt. Das Bistum finanziert die Erhebung zwei Jahre lang; das Geld dafür stammt den Angaben zufolge nicht aus Kirchensteuermitteln.

Bundesweite Studie zum sexuellen Missbrauch 2018 veröffentlicht

2018 war im Auftrag der katholischen Deutschen Bischofskonferenz erstmals eine bundesweite Studie zu sexuellem Missbrauch durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige veröffentlicht worden. An der interdisziplinären Untersuchung waren Wissenschaftler verschiedener Universitäten beteiligt. Nach ihren Standorten Mannheim, Heidelberg und Gießen wird sie auch als MHG-Studie bezeichnet. Sie wurde zum Ausgangspunkt weiterer Aufarbeitungsprojekte in den einzelnen Bistümern.

Römisch-katholische Kirche will schweizweites kirchliches Gericht

in Allgemein
  • Bischof Felix Gmür kündigt gegenüber Medien ein bistumsübergreifendes kirchliches Strafgericht für Missbrauchsfälle an. Dieses soll 2024 eingeführt werden.
  • Neben der staatlichen Justiz soll das kirchliche Gericht über die künftige Rolle der beschuldigten Person in der Kirche urteilen.
  • Dieses kirchliche Strafgericht ist auch eine Antwort auf den Beschluss der Luzerner Synode, die Beiträge ans Bistum zu blockieren.

Wenn es bei Missbrauchsfällen bei einem staatlichen Gericht zu einem Urteil kommt, soll das kirchliche Gericht übernehmen. Zum Beispiel, um über einen Ausschluss aus einem Orden zu entscheiden.

Das kirchliche Gericht soll aus Fachleuten bestehen, die sich mit Kirchenrecht auskennen, die aber nicht zwingend der römisch-katholischen Kirche angehören müssen, erklärte Felix Gmür, Bischof des Bistums Basel, vor den Medien.

Mehr Fachleute mit schweizweitem Gericht

Bis jetzt hat sich jeweils ein Gericht des eigenen oder eines anderen Bistums um solche Fälle gekümmert. Mit einem Gericht, das alle Bistümer der Schweiz umfasse, sei der Pool an Fachleuten wie Richterinnen und Richter grösser, welche diese Aufgabe übernehmen können.

Wir werden das ausdiskutieren und einen guten Weg finden.
Autor:Felix GmürBischof

Hintergrund ist ein Beschluss der Luzerner Synode, die Beiträge ans Bistum zu blockieren. Damit wollte das Kirchenparlament nach der im September veröffentlichten Vorstudie zu Missbrauchsfällen Taten erwirken. «Wir werden das ausdiskutieren und einen guten Weg finden», sagte Gmür.

Die Sorgen der Luzerner Synodalen, also der Mitglieder des Kirchenparlaments, könne Gmür verstehen. Er respektiere den Entscheid. «Es wäre aber besser und wünschenswert gewesen, zuerst miteinander zu reden», sagte der Bischof.

Vollständige Aufklärung gefordert

Die Finanzkommission der kantonalen römisch-katholischen Körperschaften im Bistum Basel (Fiko) spricht sich für eine Weiterführung der Studie zu den Missbrauchsfällen aus. Eine möglichst vollständige Aufklärung und eine Wiedergutmachung für die Opfer werde begrüsst, sagte Fiko-Präsident Christian Griss.

Dabei anerkenne die Fiko die bereits ergriffenen Massnahmen des Bistums Basel, wie etwa die Präventionskurse zum Thema «Nähe und Distanz». Diese werden seit 2004 durchgeführt und sind seit 2016 im ganzen Bistum obligatorisch.

Kirchenangestellte müssen Strafregisterauszug vorlegen

Zudem müssen Angestellte der Kirche bereits jetzt Strafregister- und Sonderstrafregisterauszüge vorlegen. Dass die Luzerner Synode den Entzug von finanziellen Mitteln androhe, sei aus der Sicht der Fiko «nicht zielführend», sagte Griss.

Missbrauch von Heimkindern gilt fast nie als Verbrechen

in Allgemein

Missbrauch von Heimkindern

gilt fast nie als Verbrechen

Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der Kindheit erhalten nur in wenigen Einzelfällen eine Entschädigung für ihren Verdienstentgang. Ein

Gutachter spielt dabei eine wichtige Rolle.

FRITZ PESSL

WIEN.

Seit Jahren kämpfen Missbrauchsopfer von Internaten und kirchlichen Einrichtungen („Heimkinder“)um eine Verbrechensopferrente.

Für die Zuerkennung ist das Sozialministeriumservice (SMS) zuständig, dass nur in Ausnahmefällen einen Verdienstentgang nach dem Verbrechensopfergesetz zuerkennt.

Denn das Gesetz verlangt, dass das Krankheitsbild ursächlich auf das begangene Verbrechen zurückführbar sein muss. Der für die Behörde in den meisten Fällen zuständige Sachverständige, der Neurologe und Psychiater Wolfgang Pankl, erkannte diesen Kausalzusammenhang fast nie. Selbst dann nicht, wenn mehrere Privatgutachter fachlich eine andere Meinung vertraten und klar von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) sprachen.

Die SN hatten über Klaus Oberndorfer berichtet, der als Internatsschüler im Stift Michaelbeuern von 1963 bis 1969 von mehreren Autoritätspersonen geschlagen und sexuell missbraucht worden war.

Facharzt Pankl, der vom Sozialministerium wie auch im Beschwerdeverfahren vom Bundesverwaltungsgericht als Gutachter beigezogen wurde, stellte fest, der Antragsteller sei schlicht langanhaltend depressiv. Es gebe keinen Kausalzusammenhang der gesundheitlichen Leiden mit den erlittenen Sexualverbrechen.

Dem Psychiater zufolge hatte Oberndorfer in seiner Jugend auch einen Verkehrsunfall erlitten und als Neunjähriger seinen Vater durch Selbstmord verloren, was seine Leiden mitverursacht haben könnte.

Daraufhin meldeten sich zahlreiche weitere Opfer, denen mit ähnlichen Argumenten eine Verbrechensopferrente vorenthalten wurde.

Den SN liegen zahlreiche Akte und Arztbefunde vor. Pankl diagnostizierte in seinen Gutachten immer wieder Dysthymie, eine länger anhaltende depressive Störung.

Einem 65-jährigen Wiener beschied der Amtsgutachter: „Ein Kausalzusammenhang mit dem Verbrechen ist nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen.“
Und weiter: „Es muss davon ausgegangen werden, dass bereits vor Heimaufnahme traumatisierende Erfahrungen gemacht wurden, unter anderem Alkoholkrankheit des Vaters, Inzest mit Haftstrafe. Überforderung der Mutter, Erziehungsnotstand und mangelnde Schulleistungen haben zur Heimaufnahme geführt.“ Pankls Schlussfolgerung: „Das erlittene Trauma ist nicht mit Wahrscheinlichkeit alleinig für das gegenwärtige psychische Zustandsbild zu verantworten.“
Das Opfer ist empört: „Pankl hat sich genau 24 Minuten Zeit genommen – zwölf Minuten Anamnese, zehn Minuten Befragung zum Fall, zwei Minuten Verabschiedung. Und er macht ein Gutachten über mein ganzes Leben.“

Ein 59-jähriger Wiener legte seinem Antrag sechs Privatgutachten von Neurologen und Psychologen bei, darunter zwei Fachärzten des Universitätsklinikums AKH. Während diese eine Persönlichkeitsänderung nach Extremerfahrungen in der Jugend diagnostizierten, kam Amtsgutachter Pankl zum Schluss: „Die Misshandlungen haben möglicherweise einen Einfluss auf den derzeitigen psychischen Leidenszustand, sind jedoch nicht als wesentliche Ursache anzusehen (…) Aus fachärztlicher Sicht ist es bei einer Vielzahl an Belastungen unmöglich, Einzelne davon zu individuieren, zumal auch zu den traumatisierenden Erlebnissen ein Abstand von ungefähr 40 Jahren besteht.“

Einem 64-jährigen Wiener beschied der Amtssachverständige „Dysthymie und paranoide Persönlichkeitsstörung“. Ein Zusammenhang zwischen den Missbrauchshandlungen im Internat und der Arbeitsunfähigkeit liege nicht vor.
„Der Antragsteller war bereits vor Heimaufnahme durch die chaotischen familiären Verhältnisse schwer traumatisiert“, so Wolfgang Pankl. Auch die „Abschiebung“ des Kindes ins Heim könnte den Leidenszustand mitverursacht haben.

Pankl sagte vor Gericht, er habe seit 2010 zwischen 150 und 200 Gutachten nach dem Verbrechensopfergesetz erstellt. Großteils führten diese zur Abweisung der Anträge auf Verdienstentgang. Der Facharzt selbst beantwortete einen Fragen-katalog nicht. Pankl habe von sich aus mit Ende 2020 seine Tätigkeit beendet, er sei nichtmehr als Amtssachverständiger im Verbrechensopfergesetz tätig, hieß es aus dem Sozialministerium.

Demnach wurden von Heimopfern 301 Anträge auf Verdienstentgang gestellt, 244 davonwurden abgelehnt, 52 zuerkannt und fünf Verfahren sind noch anhängig. Bereits im Jahr 2014 nahm der damalige SPÖ-Sozialminister Alois Stöger umstrittene Gutachter in Schutz:
„Das Verbrechensopfergesetz ermöglicht eine effektive Hilfe für Opfer aktueller oder zeitnah zurückliegender Straftaten. Je weiter Sachverhalte in der Vergangenheit zurückliegen, umso schwieriger wird naturgemäß ihre Ermittlung. Bei langen zurückliegenden Ereignissen können daher heute entgangene Verdienstchancen nur schwer beurteilt werden“, erklärte Stöger.

Von den Betroffenen, die seit Jahrzehnten leiden und ohne therapeutische Hilfe nicht leben könnten, hört man immer wieder: „Es würde sehr helfen, vom Staat als Verbrechensopfer anerkannt zu werden.“ Und auf die Frage, was sie am meisten belastet: „Wie immer noch mit Heimkindern umgegangen wird. Und dass Verfahren bewusst auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinausgezögert werden.“

Der Pfarrer lauert hinter der Kirchentür

in Deutschland, Medienberichte, Missbrauch, Pressemeldungen

MISSBRAUCH

Die katholische Kirche hat versprochen, ihre Skandale transparent aufzuarbeiten. Doch eine
monatelange Recherche im Bistum Trier zeigt das Ausmaß ihrer Schuld. Sie zeigt auch, wie Kirchenobere mutmaßliche Täter in manchen Fällen geschützt haben – und wie einige der Opfer erneut zu Opfern wurden!

»Der Teufel lauert hinter jeder Tür.«
Reinhard Marx, Bischof von Trier, 2002 bis 2008

Das Bistum Trier reicht von Niederfischbach an der Asdorf im Norden bis Kleinblittersdorf an der französischen Grenze im Süden.
In einer Gemeinde schrieb ein Mädchen über den Pfarrer in sein Tagebuch: »Er mag es wirklich, wenn man um Hilfe schreit.« An einem anderen Ort soll ein Priester ein Kindergartenkind penetriert haben, an einem dritten erklärte ein Pfarrer einem Kind, es müsse sich komplett entkleiden, damit er es korrekt wiegen könne, aber das weiß kaum jemand, auch Karin Weißenfels nicht.
Sie fährt über die Autobahn, dann auf ein Tal zu, seitlich verrottet ein Kloster. Der Name ist ihr Pseudonym für diese Geschichte, mit ihr beginnt sie.
Ein Einzelfall, so schien es. Karin Weißenfels ist über 60 Jahre alt. In ihrer Jugend wurde Gitarrenmusik in der Kirche populär, die Altäre rückten von den Wänden weg, die Priester sprachen nicht mehr mit dem Rücken zu den Gläubigen und hielten die Messe auf Deutsch. Weißenfels gefiel das, sie besuchte eine katholische Fachhochschule und wurde Gemeindereferentin in einem der Orte des Bistums. Sie empfand das als ihre Berufung. Was geschehen ist? Sie sagt, es sei so gewesen: Es begann in den Achtzigerjahren. Sie sei zwar erwachsen gewesen, aber komplett unerfahren, Sex habe in ihrem Leben keine Rolle gespielt.
Nach ein paar Jahren in der Gemeinde habe sie der Priester, ihr Vorgesetzter und mehr als 20 Jahre älter als sie, auf einer Sommerferienfreizeit für Jugendliche das erste Mal mit Küssen überfallen. Später habe es weitere Vorfälle gegeben.
Als sie ein paar Monate später schwanger wurde, habe er ihr gesagt: Du bist zu schwach für ein Kind. Du musst abtreiben. Sonst können wir nicht zusammenbleiben. Zum Abtreibungstermin gab er ihr seinen Rosenkranz mit, braun, leicht in der Hand. Als sie zurückkam, habe er sie zur Beichte bei einem befreundeten Priester geschickt.
Einen Tag vor Weihnachten habe sie in der Wohnung des Beichtpriesters hinter dem Trierer Dom gesessen und ihm gesagt, sie sei einfach aus der Praxis gelaufen. Sie habe nicht abgetrieben, habe es nicht gekonnt. Der Beichtpriester habe eine Kerze angezündet und ihr gesagt, sie müsse abtreiben. Dann habe er ihr beide Hände auf den Kopf gelegt und ihr die Absolution erteilt: So spreche ich dich los von deinen Sünden. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Jahrzehnte später steht Weißenfels vor dem Gemeindehaus des Ortes, in dem das alles geschah, und sagt, kinderlos, alleinstehend: »Die Täter haben mein Leben schwer beschädigt, aber die Verantwortlichen des Bistums haben es zerstört.« Nach der Abtreibung war es nicht vorbei. Sie schildert die Zeit so: »Es geschah oft schnell, in fünf Minuten, im Flur, im Büro, in der Toilettenanlage, wann immer es ihm passte. Er sagte mir, sein Therapeut habe ihm gesagt, er sei sexsüchtig, und ich solle über alles schweigen. Ich dachte, dass ich ihn liebe. Er war mein Vorgesetzter, eine geistliche Autorität für mich, ich habe es nicht geschafft, mich ihm zu widersetzen. Ich habe Jahre gebraucht, um ausdrücken zu können, dass das sexualisierte Gewalt war. Danach war er jedes Mal zu Tode betrübt, weil er eine Sünde begangen hatte.« So vergingen Jahre. Seit mindestens zwei Jahrzehnten beschäftigen Missbrauchsskandale die katholische Kirche in Deutschland. Bereits 2002 wurde aufgedeckt, dass in den Vereinigten Staaten Hunderte Priester Kinder missbraucht hatten. Damals sagte Kardinal Karl Lehmann auf die Frage, ob das auch in Deutschland geschehen sein könne: »Warum soll ich mir den Schuh der Amerikaner anziehen, wenn er mir nicht passt?« Bald darauf wurde bekannt, dass er selbst einen mutmaßlichen Täter gedeckt haben soll. Die Bischofskonferenz beschloss Leitlinien zum Umgang mit solchen Fällen. Im Januar 2010 meldeten Zeitungen, dass der Jesuitenpater Klaus Mertes einen Brief an Absolventen des katholischen Canisius-Kollegs in Berlin geschickt hatte, um Missbrauchstaten
der Vergangenheit offenzulegen.
Es war der Beginn einer Reihe von Aufdeckungen, Dutzende weitere Täter wurden bekannt, in Bistümern wie Mainz, Limburg, Paderborn und Dresden-Meißen. 2014 gab die Kirche eine Untersuchung in Auftrag. Die MHG-Studie, benannt nach den Orten der beteiligten Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen, sollte das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger »durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige« ausloten. Mehr als acht Jahre nach dem Canisius-Brief wurden die Ergebnisse präsentiert. In Deutschland, so der Bericht, habe es zwischen 1946 und 2014 bei 1670 Klerikern Hinweise auf Missbrauch gegeben. 3677 Betroffene konnten ermittelt werden.
In Frankreich hat eine unabhängige Untersuchungskommission in diesem Jahr ihre Ergebnisse veröffentlicht.
Der Bericht stellt fest, dass es dort seit 1950 bis zu 330 000 minderjährige Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester und Laien in der katholischen Kirche gegeben haben könnte. Die französische Untersuchung basierte nicht auf den Akten der Kirche, wie die deutsche MHG-Studie, sondern auf Hochrechnungen aufgrund von Daten von Justiz, Staatsanwaltschaft, Wissenschaft sowie Befragungen. In Frankreich kam man zu dem Schluss: Es war ein Massenverbrechen. Karin Weißenfels ist kein Teil der MHG-Studie, sie war kein Kind, als
es geschah, und es wurde vonseiten der Kirche nie vollständig wegen eines mutmaßlichen Sexualdelikts ermittelt.
Sie lebt in einer Wohnung, die ein wenig aussieht wie ein kirchliches Informationszentrum: An den Wänden
hängen Kreuze, christliche Szenen, ein Sinnspruch. Einmal ist sie Papst Benedikt XVI. begegnet, das zeigt ein gerahmtes Foto, sie schüttelt seine Hand und senkt den Kopf, sodass sie kleiner wirkt als er. Das war, als sie noch an die Kirche glaubte. Weißenfels sitzt zwischen zwei Schreibtischen und rollt auf ihrem Stuhl hin und her, wie die Chefin einer Kommandozentrale. Sie zeigt eine Übersicht über die vergangenen 20 Jahre ihres Lebens, sie hat Hunderte Dokumente eingescannt und systematisiert, darunter viele Schreiben, in denen sie das Bistum, die Bischöfe und sogar den Papst immer wieder direkt um Gehör bittet und um Hilfe anfleht. Sie hat ein Dokument erstellt, es heißt »Was sie mir angetan haben«. Sie beschäftigt einen Anwalt und hat einen Experten für Kirchenrecht engagiert, um nachweisen zu können, dass die Kirche die Täter geschützt und ihre Fürsorgepflicht für sie verletzt hat. Es ist schwer, ihre Geschichte zu umreißen, ihr selbst erscheint jede Zusammenfassung verkürzt. Weißenfels meldete um die Jahrtausendwende das Drängen in die Abtreibung durch die beiden Priester beim Bistum Trier. Die Beteiligung an einer Abtreibung ist in der katholischen
Kirche ein Verbrechen, Papst Franziskus nannte es einen »Auftragsmord«. Bald darauf schrieb sie den Verantwortlichen von einer emotionalen Abhängigkeit und dass der Umgang von Gewalt geprägt gewesen sei, »und zwar sowohl psychischer als auch körperlicher «, zu einer Zeit, als dieser Vorwurf noch nicht verjährt war. Nach vielen Briefen, Anrufen und Gesprächen setzte Weißenfels durch, dass bei dem Priester, von dem sie damals ein Kind erwartet hatte, durch den Bischof nach monatelangen Untersuchungen eine »Irregularität
« festgestellt wurde, das bedeutet, dass er sein Weihe-Amt nicht weiter ausüben durfte. Sie bezog sich nur auf das mutmaßliche Drängen in eine Abtreibung, nicht auf einen Vorwurf von sexualisierter Gewalt. Jahre später erreichte sie das Gleiche bei dem Beichtpriester. Danach stellten die beiden Priester jeweils in Rom einen sogenannten Dispensantrag, das heißt, der Papst wurde um Gnade gebeten. Der Bischof hatte auf die Möglichkeit einer Dispens hingewiesen, beide Anträge wurden rasch positiv entschieden. Das Leben als Priester konnte weitergehen, einer von beiden, der Beichtpriester, machte Karriere in Trier.
Das Bistum Trier bestätigt auf Anfrage Teile der Geschichte, wie sie hier beschrieben ist. Der Priester, der Weißenfels’ Vorgesetzter war, habe allerdings sowohl die Mitwirkung an einer Abtreibung als auch eine mutmaßliche sexualisierte Gewalt geleugnet. Auf die Rückfrage, warum dennoch eine Irregularität festgestellt worden sei, sagt das Bistum nichts. Karin Weißenfels liegt ein Brief vor, in dem der Pfarrer sie mit »tiefem Bedauern für alles, was ich Dir an Leid und Schmerzen, an Verletzungen und Wunden zugefügt habe«, um Verzeihung bittet.
Der Täter hat an anderer Stelle eingestanden, dass er ihr eine Abtreibung nahegelegt habe.
Zwei Bischöfe waren zu jener Zeit verantwortlich, als Karin Weißenfels Konsequenzen forderte. Stephan Ackermann, der das Bistum Trier seit 2009 leitet, ist seit 2010 auch der Beauftragte der Bischofskonferenz für Fragen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich. Es ist der schwerste Job, den die Kirche in Deutschland derzeit zu vergeben hat. Ackermann gilt als etwas blass, jemand, von dem man sich kaum ein Bild machen kann.
Sein Vorgänger Reinhard Marx leitete das Bistum Trier zwischen 2002 und 2008 und ist inzwischen Erzbischof von München und Freising und Kardinal. Marx habe einen guten Draht zu Papst Franziskus, heißt es, er gilt als Lebemann, ein Machtmensch, die »Zeit« hat ihn mit Gerhard Schröder verglichen. Anfang Juni 2021, nach ein paar Gesprächen in der Weißenfelsschen Kommandozentrale, meldet die katholische Nachrichtenagentur KNA: »Marx bietet Papst Rücktritt an.« Kardinal Marx hatte Franziskus scheinbar aus
dem Nichts einen Brief geschrieben. Er sprach keine konkreten Fehler an, die er selbst gemacht hat, er schrieb aber: »Nach der von der Deutschen Bischofskonferenz beauftragten MHG-Studie habe ich in München im Dom gesagt, dass wir versagt haben. Aber wer ist dieses ›Wir‹? Dazu gehöre ich doch auch.« Papst Franziskus nahm den Rücktritt nicht an. Er antwortete etwas, das sofort an den Fall Weißenfels und die Freisprüche für die beiden Priester erinnert: »… lieber Bruder. Mach weiter.«
Der Leiter der MHG-Studie, Harald Dreßing, hat gesagt, dass die Zahlen seiner Untersuchung zu niedrig seien, nur die Spitze eines Eisbergs. Der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert legte 2019 eine Hochrechnung für Deutschland vor: Es gebe ein riesiges Dunkelfeld, 8- bis 80-mal mehr Betroffene als in der MHG-Studie ermittelt. Es wurde ein Recherche Team gegründet, um durch das Bistum Trier zu reisen und dort exemplarisch nach Opfern zu suchen, mit Pfarrern und Behörden zu sprechen und Zeugen zu finden, die noch nie öffentlich gesprochen haben. Und nach dem System zu suchen. Die Orte heißen Kirn, Idar-Oberstein oder Burbach. Gerolstein, Oberwesel oder Freisen. Knapp 1,3 Millionen Katholiken leben im Bistum Trier. In fast jedem Dorf ein Kirchturm.
Man findet die Taten und Tatvorwürfe aus den vergangenen Jahrzehnten in Urteilen, durch Hinweise von Opfern, in Gutachten, Protokollen, Untersuchungsberichten, Zeitungsausschnitten. In einem der Dörfer drückte ein Priester einem Mädchen beim Orgelspiel seinen erigierten Penis in den Rücken, in einem anderen lebt ein Geistlicher, der in einer Grundschule Religion unterrichtete. Er soll eine Zehnjährige an einen Stuhl gefesselt und missbraucht haben. Danach soll er sich mit offener Hose hingekniet und zur Jungfrau Maria gebetet haben. In einer Gemeinde lebte ein Junge, als erwachsener Mann berichtet er, wie ihn der Pfarrer mit Weidenzweigen gepeitscht und vergewaltigt habe, mit der Begründung, Jesus habe auch leiden müssen. In einer anderen hat ein Priester im Schwimmbad unter der Dusche einen Jungen intim berührt und die Hand des Jungen zu seinem Genital geführt.
In einem Dorf begann ein Priester des Bistums ein Verhältnis mit einem Geflüchteten, dieser zeigte ihn 2016 an. Noch vor seiner Vernehmung nahm sich der Syrer das Leben, indem er vor ein Auto rannte.
Einen anderen Pfarrer meldete ein 14-Jähriger bei der Polizei. Er habe ihm am Mainzer Hauptbahnhof 50 Euro für sexuelle Leistungen angeboten.
In einem Städtchen soll ein Betreuer in einem katholischen Internat zu einem Jungen gesagt haben, er wolle mal nachschauen, ob er schon geschlechtsreif sei.
Ein paar Kilometer weiter lebt ein Priester, eine Frau sagte aus, was sie mit ihm als Mädchen erfahren habe: »Er weist mich an, ihn am Bauch zu küssen, und hält meine Hand fest und masturbiert mit meiner Hand. Er sagt, er sei ein erfahrener Mann und dass es für mich bestimmt schön wäre, von ihm entjungfert zu werden.« Der Mann sagte später, er könne sich daran nicht erinnern.
In einer Pfarrei zauberte ein Priester bei einer Show vor Schülern Tangas aus einem Hut, in einer anderen arbeitete ein Geistlicher, der seinem Neffen zwischen die Beine griff und sagte: »Da ist doch nichts Schlimmes, wenn man seinem Onkel einen Gefallen tut«, in einer dritten verbrannte ein Priester, als die Polizei vorfuhr, gerade Fotos nackter Messdiener hinterm Haus.
In einer Gemeinde erzählt ein ehemaliger Bergmann: »Ich wollte eigentlich Priester werden, zu Hause habe ich Messen nachgespielt. Ich war ein lieber Bub, etwa zehn Jahre alt. Der Pfarrer drang in mich ein, das geschah in den folgenden Jahren häufiger. Danach sagte er, das sei unser Geheimnis, wenn ich es doch jemand sagen würde, käme ich in die Hölle. Dann gab er mir für meinen Vater Zigaretten mit.«
In einem Städtchen sagt ein Mann, der einst Messdiener war, dass der Priester ihn zu sich gerufen habe. Er habe sein Gewand geöffnet und gesagt: Komm beichten. Der Junge trat an ihn heran, und der Mann schloss den Stoff über ihm. An der Tür hängt ein Schild: »Fotografier Verbot und Verschwiegenheit«.
Timo Ranzenberger lebt hier, hinter Kaiserslautern, hinter München, weit entfernt vom Bistum Trier, in einem Ort in Oberbayern. Das kleine Haus mit dunklem Holzdach ist eine Einrichtung für Suchtkranke, mit Alkoholkontrollen, Urintests und Arbeitstherapie. Timo Ranzenberger ist 38 Jahre alt, seit acht Jahren freiwillig hier, seine sanfte Stimme würde niemals darauf schließen lassen, dass er 40 bis 50 Filterlose am Tag raucht.
Er sitzt an diesem Tag im Garten hinter dem Haus und sagt, er führe ein Glasscherbenleben. Vor ihm liegt ein Aktenordner, darin seine Geschichte, die ihn mit dem Bistum Trier verknüpft. Sie handelt davon, wie aus einem möglichen Verbrechen mutmaßlich mehrere werden konnten: durch Wegschauen. Ranzenbergers Mutter war Alkoholikerin, sein Vater heroinabhängig. Der Sozialdienst katholischer Frauen erhielt nach dem Tod seiner Großmutter die gesetzliche Vormundschaft, er kam zu einer streng katholischen Pflegefamilie in einer Gemeinde des Bistums Trier später in eine Wohngemeinschaft.
Mit 11 wurde er Messdiener. Ende der Neunzigerjahre, Ranzenberger war 15 Jahre alt, begegnete er dem Pfarrer der Gemeinde auf der Straße. Der habe ihn gefragt, ob er nicht Lust habe, ein Wochenende bei ihm im Pfarrhaus zu verbringen. Es sei ihm wie das Paradies erschienen, sagt Ranzenberger: Sechs oder sieben Jungs hätten draußen am Gartentisch gesessen und so viel Bier getrunken, wie sie konnten, besorgt hatte es der Pfarrer selbst. Irgendwann, sagt Ranzenberger, sei er so betrunken gewesen, dass er nicht mehr allein laufen konnte. Der Pfarrer habe ihn ins Gästezimmer des Pfarrhauses gebracht. Dann habe er sich neben ihn gelegt und ihn gestreichelt. Es habe später andere Vorfälle gegeben, einmal habe er ihm auch an den Penis gefasst. Irgendwann stürzte Ranzenberger ab. Hauptschulabschluss, Gärtnerlehre, Vollrausch.
2005 begann er einen Entzug. Er bekam das Medikament Antabus, wer nach der Einnahme Alkohol trinkt, muss sich innerhalb von Minuten übergeben. An einem Sonntagmorgen, endlich nüchtern, schaltete er den Fernseher ein. Das ZDF übertrug einen Gottesdienst. Als er die Musik hörte, sei irgendwas in ihm passiert, sagt Ranzenberger. Er habe an damals denken müssen. Etwa ein Jahr später rang er sich durch, er rief bei der Pressestelle des Landeskriminalamts des Saarlands an und meldete, was damals geschehen war.
Ein Kommissar rief ihn an, und Ranzenberger machte eine schriftliche Aussage. Der Pfarrer wurde mündlich vernommen und sagte im September 2006 gegenüber dem Kommissar aus: »Es ist richtig, dass Timo bei mir im Pfarrhaus an Wochenenden übernachtet hat.« »Ich habe noch das Bild vor Augen, dass Timo bei mir auf dem Schoß sitzt und ich ihn unter dem T-Shirt streichele.«
»Ich wusste aber damals schon, dass es zumindest eine moralische Verfehlung war.« »Er tat mir leid, und deswegen sagte ich mir, sei du ihm wenigstens gut.« Die Aussagen des Pfarrers kamen einem Teilgeständnis gleich, die Staatsanwaltschaft sah einen hinreichenden Tatverdacht. Doch für die infrage kommenden Straftaten gab es damals eine Verjährungsfrist von fünf Jahren.
Der Vorwurf an den Pfarrer war nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt von Ranzenbergers Anzeige bereits verjährt, die Ermittlungen wurden eingestellt. Die Staatsanwaltschaft informierte das Bistum Trier darüber, aber auch über den Tatvorwurf. Das Bistum befragte den Priester selbst. Dort soll er die Tat geleugnet haben.
Einige Zeit nach der Vernehmung, im Herbst 2006, fand ein Jugendfußballturnier in der Gegend statt. An dem Turnier soll eine Mannschaft aus der Gemeinde des Pfarrers teilgenommen haben, er soll sie betreut haben. Auch der Kommissar, der den Pfarrer vernommen hatte, soll dort gewesen sein. Er soll den Pfarrer zusammen mit den Jugendlichen gesehen haben. Angeblich ließ es ihm keine Ruhe.
Er soll beim Bistum Trier angerufen und den Generalvikar Georg Holkenbrink, den Stellvertreter des Bischofs, erreicht haben. Er wisse nicht, ob das Bistum informiert worden sei, soll der Kommissar gesagt haben, das Verfahren sei ja eingestellt worden, er müsse allerdings etwas loswerden. Er soll dem Generalvikar von dem Fußballturnier und dem Teilgeständnis berichtet haben und zu Holkenbrink in etwa Folgendes gesagt haben: »Es kann nicht sein, dass dieser Mann Jugendmannschaften betreuen darf.«
Es habe nicht lange gedauert, und der Kommissar soll von seinem Vorgesetzten angesprochen worden sein.
Das Bistum soll den Anruf gemeldet und sich beschwert haben. Am 6. Dezember 2006, nach dem mutmaßlichen Anruf, fand eine Sitzung der Personalkommission des Bistums statt. Anwesend: Generalvikar
Holkenbrink, der damalige Bischof Reinhard Marx und der Personalchef. Dort wurde über die Zukunft des Pfarrers entschieden, der Ranzenberger missbraucht haben soll. Es wurde beschlossen, dass keine kirchenrechtlichen Voruntersuchungen gegen den Pfarrer eingeleitet werden, die beispielsweise zu einer Kontaktbeschränkung zu Jugendlichen hätten führen können. Der Pfarrer blieb auf seiner Stelle. Als wäre nichts gewesen.
In den folgenden Jahren wurde dieser Pfarrer noch mindestens sechsmal Angezeigt, bis auf eines wurden alle Verfahren eingestellt. Ein ehemaliger Messdiener sagt, im Jahr 2007, ein Jahr nach dem Anruf des Kommissars beim Bistum, habe der Pfarrer ihn eingeladen, mit ihm übers Wochenende wegzufahren.
Die Reise sei eine Belohnung für seine Dienste als Messdiener gewesen. Im Schwarzwald sei der Pfarrer dann in sein Zimmer gekommen und habe ihm in die Schlafanzughose gegriffen. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt.
2015 wurde der Pfarrer beurlaubt, offiziell hieß es, weil er sich nicht an Absprachen gehalten habe. Kurz danach ging er in den Ruhestand. Erst im Mai 2016 begann ein kirchenrechtliches Vorermittlungsverfahren gegen ihn, unter anderem wegen des Falls Ranzenberger. Fast zehn Jahre waren seit dem mutmaßlichen Anruf des Kommissars vergangen.
Die Verantwortlichen wurden mit den Vorwürfen konfrontiert.  Weder das Bistum Trier noch Marx als damals zuständiger Bischof wollen sich äußern. Sie dementieren nichts, beantworten nichts, sie verweisen auf das laufende Verfahren und schicken eine Stellungnahme vom April 2021, in der steht, dass »im Verlauf der Bearbeitung dieses Falles Fehler passiert« seien, und räumen ein, dass 2006 versäumt worden sei, »Aufklärung zu betreiben«. Die damals und heute Verantwortlichen hätten dies mehrfach öffentlich eingeräumt und ausdrücklich bedauert. Man arbeite eng mit der zuständigen Staatsanwaltschaft zusammen und habe alle Akten übermittelt. Zu den neuen Erkenntnissen, zum Anruf des Kommissars, zu dem Vorwurf, dass sie genau gewusst haben könnten, dass der Pfarrer eine Gefahr darstelle, sagen sie nichts. Der Pfarrer lässt über seinen Anwalt mitteilen, er wolle aufgrund des laufenden Verfahrens keine Stellungnahme abgeben.
Timo Ranzenberger hat Bischof Marx im Frühjahr 2021 einen Brief geschrieben, er hat ihn auch auf Facebook
veröffentlicht: »Das, was Sie getan haben mit Ihren Entscheidungen, ist alles andere als christlich. Genau
solche Menschen wie Sie lassen mich an das Böse glauben.« Er erhielt eine Eingangsbestätigung des Erzbistums München, datiert zwei Tage bevor Marx dem Papst seinen Rücktritt anbot. Eine Antwort von Marx erhielt er nicht.
Mächtig erhebt sich der Trierer Dom, die umliegenden Gebäude knien vor ihm. Die älteste Bischofskirche
Deutschlands stand schon, als die Römer das Land der Gegend bewirtschaften ließen. Beim Bau habe der Teufel geholfen, heißt es laut einer Legende. Der Architekt habe ihn reingelegt, indem er behauptete, dass sie das größte Wirtshaus der Welt bauen würden. Der Teufel habe daraufhin Steine aus dem Odenwald nach Trier gebracht, erst als er die letzte Diorit Säule in den Armen gehalten habe, habe er begriffen, dass hier eine Kirche errichtet wird. Er habe die Säule auf die Mauern des Doms geschmettert. Bis heute liegt ein 65 Tonnen schwerer Stein am Haupteingang, der Domstein zu Trier. Kinder rutschen an ihm runter, man sagt, das bringe Glück.
Als sich 2010 die Missbrauchsskandale häuften, herrschte in Deutschland erst einmal ein großes Durcheinander. Es wurden Fürbitten gehalten für die Opfer, Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger warf der Kirche mangelnde Konsequenz bei der Aufklärung vor. Kardinal Lehmann wies Vertuschungsvorwürfe als Verleumdung zurück.
Missbrauchsbeauftragte wurden ernannt, Schutzkonzepte für Gemeinden in Auftrag gegeben, die Personalaktenordnung geändert, neue Richtlinien für Zahlungen an Opfer erlassen, Betroffenenbeiräte eingerichtet.
Die Bischofskonferenz verabschiedete eine »Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- oder hilfebedürftiger Erwachsener durch Kleriker und sonstige Beschäftigte
im kirchlichen Dienst«. Papst Franziskus verschärfte das Kirchenrecht, Vertuschung durch die Bischöfe machte er zur Straftat. Der Synodale Weg, also eine breit angelegte Debatte über Konsequenzen und Reformen, startete.
An einem Sonntag im September steht Bischof Stephan Ackermann vorn im Trierer Dom. Der Apostolische Nuntius Erzbischof Dr. Nikola Eterović, der Botschafter des Papstes in Deutschland, hält die Messe zu Ehren
des Heiligen Hieronymus. Frauen mit abgegriffenem Gesangbuch, Kinder in gestärkten Jeans, gewichtige Männer mit sonorer Stimme. Der Weihrauch ist längst ins Gewölbe gezogen, als gebetet wird:
»Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe: Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken: durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld.«
Das Schuldbekenntnis ist ein wichtiger Moment in der Messe und generell im Glauben der Kirche. Man wird aus Sicht der Katholiken bereits schuldig geboren und muss durch eine Taufe von der Erbsünde befreit werden. Man kann sich später im Leben von der eigenen Schuld durch Reue und die Beichte reinwaschen
lassen. Gläubige Katholiken sind geübt darin, ihre Schuld einzugestehen. Kardinal Marx sagte bei der Vorstellung der MHG-Studie: »Wer schuldig ist, muss bestraft werden.«
Er schrieb an den Papst: »Das Übersehen und Missachten der Opfer ist sicher unsere größte Schuld in der Vergangenheit gewesen.«
Bischof Ackermann sagte: »Es haben Menschen in der Kirche Schuld auf sich geladen.« Papst Franziskus sagte, die Kirche müsse lernen, sich die Schuld zu geben. Schuldbekenntnisse, so allgemein und so oft wiederholt wie ein Gebet.
Nach der Beichte und dem Beteuern von Reue und Besserung folgt im Glauben der katholischen Kirche die Vergebung. Doch in den Schuldbekenntnissen der Bischöfe und des Papstes fehlt etwas: Schuld woran ganz
genau? Und wer ist eigentlich schuldig? Und hat das alles überhaupt je aufgehört? Man kann durch das Bistum fahren, im Hochsommer, wenn die Windräder auf den Hügeln in der Hitze stillstehen, im Herbst, wenn Traktoren manche Straßen verstopfen, und nach denen suchen, die ihrer Kirche nicht vergeben können.
Einer hat ein Geschäft, einer ist Journalist, einer Arzt. Manche sind fordernd wie Karin Weißenfels, andere zurückhaltend wie Timo Ranzenberger.  Ein Rentner sagt, er stand vor zwei Tagen auf dem Balkon, Flasche Schnaps in Reichweite, und dachte: Heute spring ich. Einer sitzt abends in seinem Laden und sagt, er habe
seinen Glauben verloren. Einer sagt am Telefon, er habe versucht, durch exzessiven Sport zu vergessen, ein anderer berichtet, er könne Berührungen meist nicht ertragen. Einer wurde selbst zum Täter. Er missbrauchte die Söhne seiner Lebensgefährtin und saß im Gefängnis. Ein Mann schreibt eine SMS: »Ich befinde mich momentan in einer Psychiatrie, weil ich mich erlösen wollte.«
Viele sind gut vorbereitet, sie haben Dokumente vor sich liegen oder Dateien erstellt, und wenn etwas fehlt, liefern sie es schnell nach. Sie sind wie Pistolen, seit Ewigkeiten geladen. Es gibt Pfarrer, die das Bistum im Amt ließ, obwohl es informiert worden war, dass sie eine Gefahr darstellen. In einem Fall meldete sich das erste Opfer im Jahr 1989 beim Bistum Trier, aber erst 21 Jahre nachdem man dort von den Vorwürfen gegen den Pfarrer erfahren hatte, versetzte man ihn in den Ruhestand.
Das Bistum sagt auf Anfrage, dass für die heute Verantwortlichen nicht mehr nachvollziehbar sei, warum der Pfarrer trotz des Eingeständnisses eines sexuellen Übergriffs damals nicht in den Ruhestand versetzt wurde. Dieses Vorgehen sei aus heutiger Sicht scharf zu verurteilen. Es gebe inzwischen ein dauerhaftes Verbot der öffentlichen Ausübung des priesterlichen Diensts. Auf eine Nachfrage, warum er nicht später in der Amtszeit von Marx in den Ruhestand versetzt wurde, ob das erste Opfer etwa »vergessen« wurde, antwortet das Bistum Trier nicht, und Marx’ Sprecher schreibt, dass dieser zu diesem »möglichen Fall« nichts sagen könne.
Inzwischen weiß das Bistum Trier von sechs weiteren Betroffenen.
Einige Täter wurden in dem Krankenhaus oder Altenseelsorge eingesetzt, wo sie Letzte Ölungen vornahmen und Messen hielten. Ein Priester im Ruhestand, der zugegeben hat, einem 15-Jährigen Geld für Sex angeboten zu haben, darf wieder Gottesdienste halten.
Das Bistum Trier schreibt an den SPIEGEL, es konnte »kein strafrechtlich relevantes Vergehen im Sinne der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger
nachgewiesen werden«.
Ein Priester wurde nach seiner Verurteilung in Saarbrücken wegen dutzendfachen Missbrauchs von acht Opfern 1994 in die Ukraine versetzt. Man holte ihn 1998 zurück ins Bistum. Offiziell ging er 1999 in Ruhestand, aber Ackermann beließ ihn als Hausgeistlichen eines Krankenhauses und eines Altenheims bis 2012. Das Bistum schreibt, dass die damals Verantwortlichen diesen Einsatz fern von Kindern und Jugendlichen für vertretbar gehalten hätten, es allerdings versäumt worden sei, die für ihn zuständigen Stellen angemessen über seine Vorgeschichte zu informieren. Auf eine Rückfrage, ob in einem Krankenhaus ein Einsatz fern von Kindern tatsächlich gewährleistet sei, antwortet das Bistum nicht.
2012 zeigte sich der Priester selbst an: Er habe in seiner Zeit in der Ukraine zwei weitere Jungen missbraucht.
Einem Pfarrer, der mit jugendlichen Messdienern in Urlaub fuhr, wurde dies vom Bistum 2014 untersagt. Dennoch wurde er 2016 öffentlich verteidigt: Diese Praxis sei »als Teil der Jugendarbeit in hohem Ansehen«, es habe »keine Beschwerden oder Missbrauchsvorwürfe gegeben«. Das ist erstaunlich, es ist derselbe Pfarrer, den Timo Ranzenberger zehn Jahre zuvor angezeigt hatte.
Der damalige Generalvikar Georg Bätzing schrieb diesem Priester bereits ein Jahr zuvor, 2015, dass er unter anderem aufgrund von Vorwürfen der Grenzverletzung gegenüber Kindern beurlaubt werde: »Sehr geehrter
Herr Pfarrer …, ich bedauere es sehr, dass der Konflikt nunmehr eine solche Eskalation gefunden hat. Mir ist auch bewusst, dass dieser Konflikt insgesamt nicht allein von Ihnen zu verantworten ist.« Bätzing schreibt,
er erbitte Gottes Segen für seinen weiteren priesterlichen Dienst.
Ein Priester, über den Zeugen ausgesagt haben sollen, er habe Kinder gebeten, die Hosen runterzulassen, wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, warum genau, teilt das Bistum nicht mit. Später arbeitete er ohne Auflagen, ein forensisches Gutachten, dem er sich freiwillig unterzogen hatte, habe ergeben, dass es
sicher sei, ihn einzusetzen, der Fall sei »strafrechtlich geahndet und therapeutisch aufgearbeitet
«, sagte das Bistum Anfang 2019.
Kaum ein Jahr später fiel erneut eine mangelnde Distanz zu Kindern auf. Man fand im Herbst 2020 ein Pinterest-Profil, dort sammelte er unter anderem Fotos von Jungen, die sich nur mit kurzen Lederhosen bekleidet vornüberbeugen oder auf Betten rekeln. Er habe sich danach in eine Auszeit und in Therapie
begeben, sagt das Bistum. All diese Vorkommnisse fielen in die Amtszeiten von Marx oder Ackermann, der Fall
Ranzenberger bringt einen dritten Bischof ins Spiel: Der damalige Generalvikar Bätzing ist inzwischen Bischof von Limburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, dem höchsten Gremium in der katholischen
Kirche in Deutschland.
Die Bischöfe sagen oft, ihre Fehler seien ohne Absicht geschehen, es seien Pannen. Die Spuren, die man im Bistum findet, legen anderes nahe. Sie wirken zwar manchmal klein und flüchtig, wie die Brotkrumen Straße aus dem Märchen. Aber sie führen direkt zur Trierer Bischofsresidenz.
Vier Autostunden von Trier entfernt, in Münster, leitet Thomas Schüller das Institut für Kanonisches Recht. Es liegt direkt am Domplatz von Münster. Schüller ist einer der renommiertesten Kirchenrechtsexperten Deutschlands. Er spricht an diesem Tag von »struktureller Sünde« und einem »Verrat am Evangelium«. Er skizziert ein System, in dem die Bischöfe vor allem eines schützen wollen: ihr eigenes Amt. Deshalb hielten sie zusammen, denn ihre Angst sei: Wenn einer gehen müsse, reiße er den nächsten mit. »Wenn Marx fällt, fallen wahrscheinlich Ackermann und auch Bätzing.« Es ist die Angst vor einem Dominoeffekt. Schüller sagt: »Das Bistum Trier ist eines der schlimmsten Beispiele mangelhafter Aufarbeitung, dort sind schwerwiegende Fehler
passiert. Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, wird es schwer sein für die betroffenen Bischöfe, sich zu halten.«
Wenn man ihn fragt, warum Marx seinen Rücktritt angeboten habe, wenn es ihm doch um Machterhalt gehe, sagt Schüller: »Er weiß, dass er am Ende ohnehin gehen muss.« Als damals verantwortlicher Bischof habe Marx sich im Fall Ranzenberger eines Dienstpflichtvergehens schuldig gemacht, er habe es 2006 unterlassen, die Vorwürfe aufzuklären. Dann hätte man auch weitere Opfer verhindern können. Im Fall Weißenfels spricht er von einem »moralisch verwerflichen Verhalten«.
Man habe die beiden Priester behandelt, als wären ihre Taten ein Kavaliersdelikt. Frau Weißenfels hingegen habe man im Regen stehen lassen.
Schüller zeichnet ein düsteres Bild seiner Kirche mit nur einigen wenigen positiven Ausnahmen. Von der Aufarbeitung in Trier erwartet er sich wenig. Er fordert eine völlig unabhängige staatliche Aufarbeitungskommission wie in Frankreich oder Australien mit den Rechten einer Staatsanwaltschaft.
Ein Priester, der mit seiner Kirche gebrochen hat, sagt zum Thema Aufklärung: »Man bittet doch auch nicht die Mafia, ihre eigenen Verbrechen zu untersuchen.«
Es gibt nur wenige Whistleblower innerhalb der Kirche. Eine ehemalige Pfarrsekretärin berichtet am Telefon, das Vertuschen sei schrecklich. Sie fleht: »Bitte nennen Sie nicht meinen Namen. « Eine Person aus dem
kirchlichen Umfeld fragt: »Wenn die mir an den Kragen wollen, helfen Sie mir dann?«
Ein Pfarrer, der einen Missbrauchstäter angezeigt hat, fand einen Müllsack mit Tierkadavern vor seiner Haustür, und im Weihwasser seiner Kirche lagen tote Fledermäuse. Im Herbst wird eine der Autorinnen dieses
Textes nachts angerufen, eine Roboterstimme meldet sich. Die Stimme sagt: »Die Jugendlichen und ihre psychischen Schäden wären dir vollkommen egal. Du würdest dich auf ihre Kosten wichtig und bereichern. Sie könnten dir inzwischen viele Übergriffe in der Recherche und viele fachliche Fehler in der journalistischen Arbeit nachweisen. Dies ist eine Anregung.«
Um zu verhindern, dass nach den Schuldbekenntnissen wirklich aufgeklärt wird, scheint die Kirche nach der 3Z-Regel zu arbeiten: Zugang, Zuständigkeit und das Spielen auf Zeit.
Das Problem des Zugangs lässt sich an der MHG-Studie erkennen: Die Kirche hat ihre eigenen Archive. Die Macher der Studie hatten keinen Zugriff darauf. Stattdessen wurden die Personalakten der betroffenen Kleriker von Kirchenmitarbeitern nach Hinweisen auf Missbrauch durchgesehen, ihre Funde gaben sie an die Verfasser weiter.
Zuständigkeit hat damit zu tun, dass die Kirche sich zwar an weltliches Recht halten Zuständigkeit hat damit zu tun, dass die Kirche sich zwar an weltliches Recht halten muss, aber auch eigene Gesetze hat, die Bestimmen, wie sie mit Taten von Geistlichen umgeht. Sie sind gesammelt im Codex Iuris Canonici, einem in lateinisch-deutscher Fassung viele Hundert Seiten dicken Buch. Es wurde immer wieder aktualisiert und fußt
unter anderem auf den Zehn Geboten. Verstöße gegen den Codex werden in kirchenrechtlichen Verfahren von der Kirche selbst überprüft. Sie ist dort nicht nur Chefermittler, sondern auch ihr eigener Richter.
Alle Formen sexuellen Missbrauchs werden im Kirchenrecht als Verstoß gegen das sechste Gebot gewertet – »Du sollst nicht ehebrechen«. Sexualstraftaten durch Geistliche galten bislang lediglich als Verstoß gegen den Zölibat. In diesem Sommer hat der Papst neue Strafbestimmungen erlassen, die jetzt in Kraft traten, eine Verschärfung des Kirchenrechts. Die Bestimmungen werten sexuellen Missbrauch von Minderjährigen erstmals als »Straftat gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen«. Sollte vom Kirchengericht eine Schuld festgestellt werden, konnten die Bischöfe bislang darüber bestimmen, ob sie den Geistlichen ihres Bistums tatsächlich bestrafen oder nicht. Jetzt müssen sie es. Doch am Ende entscheidet trotz allem noch immer der Papst. Im März 2021 machte das Erzbistum Köln Schlagzeilen. Dort waren Gutachten zum sexuellen Missbrauch in Auftrag gegeben worden. Die Veröffentlichung eines ersten Gutachtens war von Kardinal Rainer Maria Woelki verhindert worden. In einem zweiten wurden dann mehrere Pflichtverletzungen festgestellt, darunter 24 bei dem verstorbenen Erzbischof Joachim Meisner. Er hatte Unterlagen über Missbrauchstäter in einem geheimen Ordner aufbewahrt. Der Titel: »Brüder im Nebel«.
Elf Pflichtverletzungen ließen sich bei dem ehemaligen Personalchef Stefan Heße nachweisen. Das Gutachten
wurde nach Rom weitergeleitet, Heße, heute Erzbischof von Hamburg, bot seinen Rücktritt an. Im September
2021 verkündete Papst Franziskus seine Entscheidung. Er nahm das Rücktrittsgesuch von Heße nicht an, wie
schon im Frühsommer bei Marx.
Die Zeit, das dritte Z, ist das mächtigste Instrument der Kirche. Kirchengerichte brauchen oft Jahre bis zum Urteil. Seit Anfang 2018 läuft ein kirchenrechtliches Strafverfahren gegen den Pfarrer, der unter anderem Timo Ranzenberger missbraucht haben soll. Fast vier Jahre später heißt es, man befinde sich noch immer in der Beweisaufnahme.
Nach einer Voruntersuchung wird in Rom weiter beraten und entschieden. Ein Missbrauchsverfahren liegt
dort seit 2012. Man habe zuletzt im November 2019 davon gehört, teilt das Bistum Trier auf Anfrage mit. Bis
heute gebe es keine Entscheidung. Bereits 2018 verpflichteten sich die Bischöfe zu einer Aufarbeitung, die
die Schuld der Kirche untersuchen soll. Im April 2020 verständigte sich die Kirche zusammen mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs auf verbindliche Kriterien und Standards. In den Bistümern sollen Unabhängige Aufarbeitungskommissionen
gegründet werden.
Organisiert wird die Gründung der Kommissionen von der Kirche, in Deutschland sichert das Grundgesetz
den Religionsgemeinschaften zu, dass sie ihre Angelegenheiten selbst regeln dürfen. Bis Anfang November
haben Kommissionen in gerade mal der Hälfte der 27 Bistümer ihre Arbeit aufgenommen. Im Juni 2021 begann die Kommission in Trier mit ihrer Arbeit. Sie soll jährliche Zwischenberichte vorlegen, hat aber insgesamt sechs Jahre Zeit.
Unterdessen sterben die Täter. Karin Weißenfels hatte im Mai bei einem der ersten Treffen gesagt, sie
wünsche sich, dass die Aufarbeitungskommission den Priester, der sie jahrelang sexuell belästigt und zur Abtreibung gedrängt haben soll, befragt, damit er dies bestätigen kann. Er ist über 80 Jahre alt. Als der SPIEGEL den Pfarrer im August kontaktiert und ihn auffordert, sich zu dem Vorwurf zu äußern, sagt er am Telefon, dass er sich das vorstellen könne. Allerdings müsse er zuerst das Bistum um Erlaubnis bitten.
Wenig später schickt der Pfarrer einen Brief: Er sei mit dem Generalvikar Ulrich Graf von Plettenberg
übereingekommen, dass er nicht sprechen könne, bevor die Arbeit der Kommission abgeschlossen sei.
Bald darauf stirbt er.
Man ist bei den Tätern im Bistum Trier nicht so willkommen wie bei den Opfern. Man kann aber unangemeldet hinfahren und klingeln. Es öffnen Männer, manche jünger, viele schon im Rentenalter, die sich meist sofort wieder umdrehen und die Tür zuschlagen.
Nur wenige der Priester haben bislang öffentlich gesprochen. Man kann man mit unerschütterlichem Zusammenhalt beschreiben kann. In seinem Weihejahrgang, unter seinen Kollegen, wüssten alle Bescheid, es werde toleriert, wenn man sich viele Jahre kenne. Er selbst kenne andere Täter persönlich.
Nach einer Therapie wurde er in Altenheimen und Krankenhäusern eingesetzt, danach hielt er in einer
Pfarrei wieder Messen, bis 2012. Auf die Frage, ob er noch mal zum Täter wurde, sagt er Nein. Aber er sagt, Vorsicht sei immer geboten. Es sei eine Sucht, wie beim Alkohol. Oder, wie wenn man mal ein Eis esse, obwohl
man doch wisse, man habe Zucker. Maare sind Trichter, entstanden durch heftige Explosionen unter der
Erde. Manche füllten sich mit Wasser und werden heute als Badeseen genutzt. Sie reichen bis tief ins Gestein.
Martina Oehms ist 60 Jahre alt, Biologin und zuständig für die Seenüberwachung in Rheinland-Pfalz, sie sitzt zwischen Pflanzen in der Küche ihrer Wohnung in Mainz. Neben dem Tisch, in die Ritze zwischen Holzrahmen
und Pinnwand geklemmt: ein Bild. Ein Kommunionkind mit einem Kranz aus weißen Rosen auf dem Haar. Sie sagt, sie erkenne sich selbst nicht darauf, sie hat es dort aufgehängt, damit ihr wieder einfällt, wer dieses Mädchen war.
Das Dorf, aus dem sie stammt, liegt in der Eifel, nicht weit entfernt von den Maaren, mit denen sich Martina
Oehms heute beschäftigt. Ein paar Hundert Einwohner, links und rechts Felder. Sonntags ging sie als Kind im Nachbarort in die Frühmesse, mittags ins Hochamt und abends zur Abendandacht. Der Priester der Pfarrei war auch ihr Religionslehrer.
Es begann in der ersten Klasse, 1967, Martina Oehms war sechs Jahre alt. Was passierte, schildert sie so: »Wenn es zur Pause geschellt hatte, stellte er sich an die Tür, aus der wir rausmussten, und griff sich wahllos
eines der Kinder. Zum Beispiel mich. Er setzte sich und klemmte mich wie in einen Schraubstock zwischen
seinen Beinen ein und fasste mich überall an. Es hörte auf, wenn die anderen Kinder zurückkamen. Ich
erinnere mich noch genau an das Entsetzen in der Klasse vor der Pause, die Ohnmacht. Und die Angst, dass
man dran sein könnte, zeitgleich die Scham, dass man hoffte, dass es einen anderen trifft. Ich glaube, er hat sich an unserer Angst geweidet.«
In dieser Zeit, sagt Oehms, habe sie oft überlegt: Wie werfe ich mich so vor einen Traktor, dass ich sicher tot bin? Eine Lehrerin soll den Priester Ende der Sechzigerjahre an das Bistum Trier gemeldet haben. Später erfuhr Martina Oehms, dass man den Priester nach einer Weile einfach in eine andere Gemeinde versetzt haben soll.
Das Bistum Trier schreibt an den SPIEGEL: »Aus heutiger Sicht ist der damalige Umgang mit den Vorwürfen
ohne Zweifel unangemessen und falsch.« Umso wichtiger sei aus Sicht des Bistums die unabhängige Aufarbeitung. Man habe bereits zwei Opfer entschädigt und mögliche weitere Opfer ermutigt, sich zu melden.
Was Martina Oehms später auch erfuhr: dass manche im Dorf offenbar Bescheid gewusst und nichts unternommen hatten, auch ihre eigenen Eltern. Sie sagt: »Damals war der Priester wie Gott selbst, und als
Kind war man nur ein Ding.« Und: »Ein ganzes Dorf. Alle, fast alle, schweigen.«
Viele Opfer berichten, dass die Täter mächtige Unterstützer hatten: Oft sind es die Gläubigen selbst, für
die die Priester den Zugang zum Himmel bedeuten.
Ein Opfer erzählt, es habe noch als Teenager seinen Eltern von den Übergriffen berichtet. Sie hätten nichts
unternommen. Ein Mann sagt, er habe seinen Peiniger bei der Polizei angezeigt, der Täter wurde später
verurteilt. Im Dorf hieß es allerdings, das Opfer sei ein Lügner und Wichtigtuer, ein »schwuler Hund«. Es wurde so schlimm, dass die Familie umziehen musste.
Nicht nur Gläubige halfen der Kirche, die Übergriffe der Priester zu verbergen. Sie konnte sich lange auch
darauf verlassen, dass es den Opfern schwerfällt, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Einem wurden die Taten Jahrzehnte später nach einer Hypnose zur Raucherentwöhnung wieder präsent.
Ein Opfer sagte am Telefon: »Bitte rufen Sie nicht mehr an. Meine Frau weiß nichts, meine Kinder auch
nicht.« Sprechen könne er über das, was geschehen sei, ohnehin nicht, sonst gehe er jetzt auf der Stelle zu
Boden.
Manche schwiegen aus Scham oder weil ihnen der Priester drohte. Andere verdrängten oder befürchteten
eine Retraumatisierung. Oft sind die Vorwürfe verjährt, wenn die Opfer sich melden.
Der Missbrauch in der katholischen Kirche ist, wenn man so will, das perfekte Verbrechen. Auf der einen Seite steht die Kirche mit ihrer Wortgewalt, ihren Sonderrechten und ihrer Übung, sich zu präsentieren und zu äußern.
Auf der anderen Seite stehen die Opfer, ie oft Kinder waren. D ie Suche nach der Wahrheit ist schwer. Zeugen, die sagten, sie hätten brisante Informationen, leugnen dies später und raten zum Abbruch der Recherche. Opfer, die noch darauf warten, ob ihnen die Kirche Geld zusprechen wird, reden lieber nicht. Einem Zeugen schreiben wir immer wieder, stecken Zettel in seinen Briefkasten. Schließlich spricht er, nachdem wir Stunden
vor seinem Haus auf ihn gewartet haben. Doch am schwierigsten ist der Kontakt zur Kirche selbst.
Auf Anfragen erhält man oft Hinweise auf die datenschutzrechtlichen Vorschriften und Persönlichkeitsrechte.
Bei einem Priester, der Gerüchten nach vor ein paar Jahren eine Kamera im Bad des Pfarrhauses installiert haben soll, um einen Praktikanten zu filmen, heißt es vonseiten des Bistums, hier würden nicht die Missbrauchsleitlinien greifen, sondern das Disziplinarrecht. Daher sei man nicht verpflichtet, Auskunft
zu geben.
Die Aufarbeitungskommission weigert sich im November bekannt zu geben, wie der Stand ist. Nicht einmal die Zahl ihrer bisherigen Treffen will sie nennen. Am verschwiegensten ist ein Kloster in Hessen. Dort wurden Missbrauchstäter des Bistums Trier therapiert. Wenn man das Kloster per Mail kontaktieren möchte, findet man nur die Adresse der Datenschutzbeauftragten des Ordens. Sie könne nichts sagen, antwortet sie. Ob sie einen anderen Ansprechpartner nennen könne? Leider nein: Datenschutzgründe.
Sie hilft schließlich doch. Irgendwann schreibt eine Ordensschwester, sie will aber keine genauen Angaben machen, wegen der »professionellen Schweigepflicht«.
Das Bistum Trier teilt mit, man müsse bezüglich jeder Frage eine Abwägungsentscheidung treffen zwischen dem öffentlichen Informationsinteresse einerseits und dem obliegenden Schutz der Rechte der Betroffenen
andererseits. Man sei seit mehr als einem Jahrzehnt mit der Be- und Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt befasst. Sei Aufarbeitung zunächst auf Einzelfälle bezogen gewesen, richte sich der Fokus seit 2018 auch auf die institutionelle Aufarbeitung. Es sei ein Anliegen, auch ein mögliches Fehlverhalten von Verantwortlichen zu beleuchten.
Doch die Reise durch das Bistum des Missbrauchsbeauftragten der katholischen Kirche offenbart eine Institution, die kein echtes Interesse an Aufklärung zu haben scheint, und wenn, dann nur zu ihren Bedingungen.
Manchmal fühlt es sich an, als säße man vor einem großen Gemälde, im Dunkeln, und die Kirche bediene den Lichtschalter. Ab und an macht sie für eine Sekunde das Licht an. Dann schnell wieder aus. Eine der Autorinnen dieses Textes lebt im Bistum Trier, eine andere wurde dort geboren und getauft, dann: Heilige Kommunion, Messdienerin, Firmung. Beide haben selbst nie schlechte Erfahrungen mit der katholischen
Kirche gemacht, während der Recherche fragten sie sich manchmal: Darf man so über die Kirche schreiben, wenn man schon tausendmal gebetet hat, dass man an sie glaubt? Darf man mutmaßliche Tatort-Kirchen
abbilden, in denen auch Hochzeiten und Taufen stattfanden? Macht man damit auch die vielen schlecht, die nichts getan haben?
Aber den Generalverdacht schafft die Kirche selbst. Sie schweigt schon lange auf Kosten der Opfer, aber auch auf Kosten ihrer Angestellten.  Wenn die Täter gedeckt werden, sind alle verdächtig.
Wo steckt Gott eigentlich bei all dem?
Manchmal scheint es, als würden sie ihn zu ihrem Komplizen machen. Er ist streng, wenn es passt, und er verzeiht, wenn das besser passt.
Da ist die Frau, die erzählt, dass sie in der Schule bei geringsten Vergehen von den Nonnen geschlagen wurde. Da ist die Frau, die erlebt hat, dass die Nachbarin in Schwarz heiraten musste – weil sie bei der kirchlichen
Trauung schwanger war und das Dorf die Schande sehen sollte.
Ein Chefarzt eines katholischen Krankenhauses musste gegen seine Kündigung durch die Kirche nach seiner Scheidung und erneuten Heirat klagen, die Kirche hatte dies als schwerwiegenden Loyalitätsverstoß gewertet.
1000 kleine Grausamkeiten.
Umgekehrt setzt die Kirche auf Vergebung, sobald es um die Versäumnisse ihrer Priester geht. 2010 sagte Erzbischof Meisner über einen geständigen Priester: »Ich kann ihn doch nicht in den Rhein werfen.« Barmherzigkeit müsse für alle gelten. Karin Weißenfels erhielt einmal einen Brief des Generalvikars Holkenbrink, in dem er schreibt, er sei der Überzeugung, dass »Probleme moralischer Art nicht durch rechtliche Maßnahmen gelöst werden können«. Marx schrieb ihr: »Ich hoffe sehr, dass Sie wissen, wie sehr ich Verständnis habe für das, was Sie empfinden. Ich bitte Sie aber auch herzlich darum, nach vorn zu schauen, soweit Ihnen das möglich ist.«
Ein Mann der Kirche sagt, die Täter seien doch auch nur Kinder Gottes. Und das letzte Wort über sie habe der Herr. Es ist Winter geworden. Bischof Ackermann und Kardinal Marx haben Gesprächsanfragen für diese Recherche abgelehnt. Kardinal Marx lässt zum Fall Karin Weißenfels mitteilen, im Rückblick werde ihm deutlich, um welch eine vielschichtige Problematik es sich gehandelt habe und handelt. Und: »Mittlerweile
sind wir für diese Fragen sensibilisierter.
« Es tue ihm sehr leid zu erfahren, dass Frau W. bis heute belastet ist. Bischof Ackermann sagt, es gebe kaum einen anderen Fall, bei dem er so sehr an die Grenzen des Rechts, der beteiligten Personen und seiner Möglichkeiten gestoßen sei.
Zu dem Fall Weißenfels hat sich auch der heutige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Bätzing geäußert. In einer Pressekonferenz im Februar 2021 sagte er, der Fall Karin Weißenfels sei von Ackermann zur
Chefsache gemacht worden. Weißenfels sagt, sie habe von Bischof Ackermann zuletzt vor fünf Jahren gehört. Weißenfels, die abends zu den Gesängen der Mönche von Taizé einschläft, sagt, sie habe Angst, dass man ihr in
der Öffentlichkeit nicht glauben könnte. Ihr Fall erinnert an #MeToo-Schilderungen, nur dass man im kirchlichen Kontext noch nicht so oft von Fällen wie ihrem gehört hat. Sie schickt Zahlen, per Mail: Der US-amerikanische Pastoralpsychologe Richard Sipe schätzte einst, die Zahl der sexuellen Übergriffe von
Priestern in der katholischen Kirche auf Frauen sei viermal höher als die auf Kinder.
Weißenfels’ Anwalt sagt, Marx und Ackermann hätten massiv gegen ihre Fürsorgepflicht als Arbeitgeber verstoßen. Sie hätten Weißenfels behandelt wie eine Aussätzige. Er selbst sei aufgrund dieses Falls aus der Kirche ausgetreten. Das Bistum gibt auf Nachfrage an, man sei der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers
vollumfänglich und in Teilen sogar darüber hinaus nachgekommen. Sie teilen auch mit, die Haltung des Bistums sei geprägt davon, den Betroffenen zuzuhören und ihnen, wenn möglich, Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen und ihnen bei der Aufarbeitung zu helfen.
Offensichtlich gelinge das nicht immer. Vor vielen Jahren, sagt Weißenfels, habe ihr in einer stationären Therapie ein Arzt gesagt, sie solle Heilung nicht in der Kirche suchen, sie werde sie dort nicht finden. Damals hat sie so sehr an ihrer Institution gehangen, dass sie die Behandlung aufgrund dieser Aussage abbrach. Im Gespräch mit Karin Weißenfels und anderen Betroffenen merkt man, dass es ein viertes Z gibt, eines, das die Opfer vermissen: Zuwendung.
Man kann Zuwendung in vielen Einheiten bemessen, zum Beispiel in Mitgefühl. Am leichtesten geht es in der Einheit Geld. Die Kirchensteuererträge des Bistums Trier lagen 2019 bei 338 Millionen Euro. Das Bistum erhält von den Bundesländen Rheinland-Pfalz und Saarland außerdem jährlich mehr als 17 Millionen Euro Staatsleistungen. Diese Zahlungen sind in fast allen Bundesländern üblich, sie sind im Grundgesetz verankert und werden aus Steuern finanziert.
795 500 Euro hat das Bistum Trier seit 2010 nach eigenen Angaben an Missbrauchsopfer gezahlt, im Schnitt 5764 Euro pro Opfer, bei denen eine Zahlung bewilligt wurde.
Manche Opfer erhalten monatlich einen kleinen Betrag. Allerdings nicht von der Kirche. Diese Renten nach dem Opferentschädigungsgesetz zahlt der Staat.
Karin Weißenfels ist seit langer Zeit de facto freigestellt vom Dienst. Sie hat während dieser Recherche monatelang mit dem Bistum Trier verhandelt. Es sei für sie wichtig, von der Abhängigkeit befreit zu sein, sie möchte ihr Gehalt bis zur Rente ausbezahlt bekommen, außerdem möchte sie eine, wie sie sagt, symbolische Summe für materielle und immaterielle Schäden. Lange sah es so aus, als würde das Bistum das möglich machen, ein Vertragsentwurf war fertig. Im November schließlich wurde er vom Diözesanverwaltungsrat
abgelehnt.
Der Generalvikar schreibt ihr, es tue ihm leid und, wie zum Trost: »Weiterhin liegt Ihr Fall der Unabhängigen Aufarbeitungskommission vor. Wer weiß, was dabei im Ergebnis herauskommt …«
Am Rande der Fußgängerzone kommen Ende November in einem kleinen Raum zwölf Menschen im Namen der Aufarbeitung zusammen. Sie sind Mitglieder des Vereins der Missbrauchsopfer und Betroffenen im Bistum
Trier, kurz »MissBiT«.
Ihre Macht wächst langsam. Es kommt inzwischen wohl zu weniger Fällen, das Wissen um die Taten hat sich herumgesprochen, weniger Eltern vertrauen Priestern ihre Kinder an. Allein im Bistum Trier treten pro Jahr etwa 10000 Menschen aus. Die Opfer vernetzen sich über Social Media, bündeln Informationen, entwickeln Strategien, wie sie Bischöfen das Handwerk legen können. Es bleibt dennoch ein ungleiches Spiel.
Erster Tagesordnungspunkt heute: »Wie geht es dir?«
Mehr als 120 Menschen hat das Team inzwischen gesprochen. Man hat alles schon gehört. Dachte man. Dann sagt ein älterer Herr, er liege nachts wach und denke an den Bußgürtel, den der Täter trug, ein Werkzeug zur Selbstgeißelung, dessen Dornen ins Fleisch stechen, verwendet von manchen Mitgliedern des Opus Dei.
Im November schreibt die Sprecherin des Bistums auf Anfrage: »Unsere Statistik ermöglicht uns aktuell, Ihnen zum einen die Zahlen zu geben, die in die sogenannte MHG-Studie eingeflossen sind: Kontrolliert wurden 4680 Akten. Es gab 148 Hinweise auf Beschuldigte (= 3 Prozent).« 442 Betroffene seien in einem Zeitraum ab 1918 ermittelt worden.
Zum anderen hätten sich seit 2010 weitere 208 Betroffene gemeldet, beschuldigt würden 73 verstorbene Kleriker und 36 noch lebende. Es gebe allerdings eine Schnittmenge zu den Zahlen der MHG-Studie, man könne die Zahlen nicht einfach addieren. Drei Prozent also.
An einem Ort, den man nicht nennen darf, stört man eine Person, über die man nichts sagen darf, beim Schauen eines Tierfilms und Essen eines Käsebrots, ein Pfirsichkern nässt auf die Fernsehzeitschrift. »Was wollen Sie?«, fragt die Person und sagt, dass man nicht schreiben dürfe, dass man mit ihr gesprochen hat.
Das Bistum wird später auf Anfrage anmerken, dass man nicht ausschließen könne, dass das, was die Person schildert, in früheren Zeiten Praxis war. Für die Amtszeit der Bischöfe Marx und Ackermann könne man dies
aber verneinen.
Die Person war jahrelang ein ranghohes Mitglied des Bistums, auch unter Marx und unter Ackermann. Wenn man der Person vorhält, dass sich das Bistum Trier mit der Aufklärung von Missbrauchsfällen auffällig lange
Zeit gelassen habe, lacht die Person und sagt: »Vertuscht haben wir.« Vertuschen sei nichts Schlechtes, sagt die Person, vertuschen sei auch gesund, es müsse nicht immer alles rauskommen. Wie man das Vertuschen nachweisen könne?
Die Person sagt, man sei sehr gründlich vorgegangen. Wenn ein Priester gestorben sei, habe man sich die Akte angesehen und das Schlimmste rausgenommen – bevor sie ins Archiv gewandert sei.
Die Person im Wohnzimmer lacht ein bisschen über die eigene Teufelskerlhaftigkeit. Dann hält sie inne und fragt: »Aber das sagen Sie keinem, oder?«