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Ich bin hinter dir: Katholische Internatsgeschichten.

Von Rolf Cantzen 200 Seiten Alibri 2012

Kontrolliert, gedemütigt, verprügelt, bestraft, sexuell missbraucht, zur Mittäterschaft gezwungen – das Erleben katholischer Internate wird in den hier gesammelten Texten ungeschützt erinnert. Die biografischen Reflexionen zeigen, wie in der „totalen Institution“ Internat Kontrolle, Hierarchie, Gewalt und sexueller Missbrauch ineinander greifen und eine spezielle Variante „schwarzer Pädagogik“ ausbilden. Der Zweifel an rigiden Glaubensvorschriften verbindet sich mit dem Gefühl, sündig und minderwertig zu sein. Die christliche Demutsforderung mündet in die systematische Demütigung der Zöglinge.
Die persönlichen Rückblicke machen deutlich: Sexualisierte Gewalt in katholischen Internaten geschieht nicht zufällig durch psychopathische Einzeltäter. Sie wird begünstigt durch hierarchische Institutionen, durch christliche Ideologie und durch eine zur „Reinheit“ verpflichtete zölibatäre Priester.

Leserrezensionen:
1. Das Buch hat mich voll getroffen. Nachdem ich das Buch gelesen habe, habe ich erst einmal ein Tief erlebt. Ich fühlte mich aufgewühlt, traurig und ohnmächtig. Das über Tage.
Ich bin Handruper Zögling. Wenige Jahre später als Walter Brüggen und Rolf Cantzen. Ich kenne auch die Beteiligten, darunter auch die Täter. Auch wenn ich nicht zu den sexuell Missbrauchten gehöre, haben die neun Jahre mein Leben geprägt.
Die Beiträge der anderen Autoren erlebe ich ergänzend, jeder mit eigener Blickrichtung, alle mit dem Thema Gewalterfahrung, Ohnmacht, tiefe Ängste und (Selbst-)Zweifel, Anpassung an das totalitäre System. Auch Zorn.
Wichtig ist die Botschaft, sich mit dem Erlebten zu beschäftigen und sich dessen Bedeutung klar zu machen, auch noch viele Jahre später. Ich bin nicht allein damit. Das ist eigentlich das wichtigste dieses Buches für ‘”Knackies”‘ aus den damaligen Zeiten: Setzt Euch damit auseinander, schaut aufmerksam auf die Spuren, die es im Leben hinterlassen hat. Sucht Euch kirchenunabhängige (!) Gesprächspartner mit Verständnis für die Unmöglichkeit, das Erlebte auf einen Nenner zu bringen. Das kann auch ein erfahrener Psychotherapeut sein. Für manche mag das in der Kirche möglich sein, anderen tut es dort garnicht gut.
Sorge habe ich um die im Internat “Gescheiterten” und die sexuell Mißbrauchten. Nicht Ihr seid das Problem! Die Täter (!) sind es und das System, das es ihnen ermöglicht (hat), zum Teil noch Heute ihr grausiges Tun fortzusetzen.
2. Kreuz und Dornenkrone sind zentrale Symbole der christlichen Kirchen. In katholischen Internaten stehen diese Mord- und Folterinstrumente offensichtlich für das Erziehungsprogramm, liest man das erfahrungsgesättigte Buch ‘Ich bin hinter dir’. In Furcht, Einschüchterung, Demütigung, und Missbrauch erweist sich eine praktizierte Seite dieser ‘Religion der Liebe’, als die sich das Christentum tituliert. Die Kehrseite dieser düsteren Praxis zeitigt nützliche Folgen für Machtstellungen in Firmen oder diversen Verblödungsinstitutionen. Sie lässt die Zöglinge drastisch erfahren, wie man Menschen beherrschen kann und ihnen dabei möglichst alle Bedingungen, individuell oder kollektiv Widerstand zu leisten, entzieht. Seelische Schäden sind das eine, was man nie los wird; die in der totalen Institution eingeschliffene Denk- und Handlungsmuster sind das andere, was man mitnimmt. Beides zu akzeptieren und selbst quasi ‘Prior’ anderer zu werden, das ist die gut honorierte Lebenspointe vieler ehemaliger Internatsschüler.
Viele Unternehmer und Führungskräfte stehen auf so etwas!
Der Trigema-Chef und Millionär Wolfgang Grupp etwa ‘ kein Autor in Cantzens sehr erhellendem Buch! ‘ hat den persönlichen Nutzen für eine künftige Führungskraft auf den Punkt gebracht (Angaben nach: Christian Rickens ‘Ganz oben’, 2011, S. 152-155): Schläge seien im Jesuiteninternat St. Blasien an der Tagesordnung gewesen und er habe unter anderem an Heimweh gelitten. Aber er habe gelernt, wie man sich unterordnet und durchsetzt, dabei Disziplin und Selbstverantwortung entwickelt. In seiner Firma profilierte sich Grupp durch Härte und Zornesausbrüche, die an denen des Internat-Zuchtpersonals geschult zu sein schienen. ‘ Ein Sozialarbeiter hätte es analog zu krimineller Karrieren aus dem sogenannten Prekariat kaum treffender formulieren können! Wer oft geprügelt und ausgeklügelt klein gehalten wird, lernt eben für das Leben. Er gewinnt eine innerliche Grundhärte und weiß seinerseits nun ‘ hat er ‘Familie’ und Vermögen im Rücken! ‘, was ‘zielgerichtete Menschenführung’ in einer Firma heißt und erreichen kann. Übrigens: Genannter Herr Grupp steckte Tochter und Sohn ebenfalls ins Internat. Damit sich dieser Elite-Typ unbeeindruckt reproduziere, per omnia saeculum saeculorum!
3. Die Beiträge in diesem Band sind notwendig polemisch, aber ebenso bewundernswert ehrlich. Durchweg werden eigene Erfahrungen geboten, werden die persönlichen Beschädigungen “in dem ‘elenden Klima von Not und Angst, Willkür und Gewalt”‘ nicht verschwiegen.
Bei aller Betroffenheit – und zum Teil drastischen Offenheit -‘ gelingt es den Autoren, das grundsätzliche Problem der Internate auf den Punkt zu bringen. Hier liegt dank der konsequenten Auswahl des Herausgebers der größte Wert des Buches: Ohne abgehobene soziologische Analysen oder sonstige Theorien aus der Vogelperspektive wächst von Beitrag zu Beitrag die Erkenntnis, dass es nicht nur darum geht, Vergangenheit zu ‘bewältigen’, sondern dass eine gegenwärtige Wahrheit ohne die übliche Beschwichtigungsrhetorik vor Augen kommt.
Jede ‘Reform’ innerhalb des Systems verschleiert nur das Grundübel einer zur “‘Reinheit”‘ verpflichteten zölibatären Männergemeinschaft unter der Fuchtel eines in sich widersprüchlichen Regelwerks.
Wer sich über die wirklichen Zustände der damaligen ‘”Kästen”‘ ein Bild machen möchte und gleichzeitig einen ungeschminkten Blick auf die aktuelle Situation der Internate erträgt, kommt an dieser Anthologie nicht vorbei. Unbedingt lesenswert!
4. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal ein Buch gelesen zu haben, das mich innerlich so aufgewühlt, zornig und ratlos gemacht hat, wie die von Rolf Cantzen herausgegebenen “Katholischen Internatsgeschichten”. Es ist verdammt schwer, zu fassen, zu “begreifen” (fast scheut man davor zurück, das so zu formulieren) was da von Betroffenen, von zutiefst Geschädigten und Verletzten, von Erniedrigten und Beleidigten berichtet und geschildert wird. Erschütternd, was Menschen (und dann auch noch im Gewand der christlichen “Liebesreligion”) hilflosen Kindern, “Schutzbefohlenen” antun, wie sie anderen Menschen das Leben buchstäblich zur Hölle machen.
Dieses Buch tut weh, verdammt weh, es macht schlaflose Nächte und schlechte, ganz schlechte Gefühle. Aber es ist auch bitter notwendig in Zeiten, in denen Viel zu Viele schon wieder damit begonnen haben, Häkchen des “Vergeben und Vergessens” hinter das doch gerade mal eben Aufgedeckte zu machen, oder – schlimm genug – in denen es zunehmend schick wird, mal wieder dieses grausig-reaktionäre Hohelied von Disziplin und Demut (nicht nur in der “Erziehung”) zu singen. Als ob “Demut” nicht notwendigerweise immer mit Demütigung, mit gebrochenem Rückgrad und (Selbst-)Erniedrigung zu tun hat!?

ISBN: 978-3-86569-073-9
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