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– SEXUELLER MISSBRAUCH IN DER KATHOLISCHEN KIRCHE

SEXUELLER MISSBRAUCH, EXPLIZITE SCHILDERUNGEN

Vom Priester vergewaltigt, missbraucht, bedroht – und viel zu lange geschwiegen. Auch Jahrzehnte danach schockieren die brutalen Verbrechen der Gottesmänner. Eine Reportage über Kindesmissbrauch, Macht und Manipulation in der katholischen Kirche.

„Die Hosen runter, bis zu den Fersen. Hemd hochheben, so weit es ging, damit die Arme oben waren. Dann hat er einen Gürtel genommen und von den Kniekehlen bis über das Kreuz hoch zugeschlagen. Dann musste ich die Beine auseinandernehmen, und er hat auf die noch nicht reifen Geschlechtsteile geschlagen. Daher bin ich auch nicht zeugungsfähig“, erzählt der heute 67-jährige Klaus Oberndorfer. Er wurde in einem oberösterreichischen Stift in seiner Schulzeit in den Jahren 1963 bis 1967 von einem Priester (Name der Redaktion bekannt) sexuell missbraucht und vergewaltigt. Herr Oberndorfer lebt heute in Vöcklabruck, erklärt sich aber bereit, für das Gespräch mit mir nach Wien zu kommen. Ihm ist wichtig, dass Geschichten wie die seine nicht mehr totgeschwiegen werden, wie es jahrelang üblich war. Bei unserem Treffen spricht er ruhig, gefasst, und schreckt auch nicht davor zurück, in allen Details zu erzählen, was ihm widerfahren ist. „Es war dann meistens nach 22 Uhr, als er die schlafenden Jungen zu sich holte. Er hat sich per Post immer große Packungen Gleitgel zukommen lassen. Weil dann die Verletzungen nicht so groß waren, und dann, entschuldigen Sie den Ausdruck, konnte er uns auch nicht so arg „den Arsch aufreißen“. Klaus Oberndorfer war nicht das einzige Opfer: Über zwanzig seiner Internatsschüler, allesamt Jungen, hat der Pfarrer in dieser Zeit sexuell missbraucht. Geredet hat damals niemand darüber. Früher war es auch oft üblich, dass Täter einfach in eine andere Pfarre versetzt wurden. „Heute wird nicht mehr versetzt. Das passiert nicht mehr.“, erklärt Martina Greiner-Lebenbauer von der Stabsstelle für Missbrauchs- und Gewaltprävention der Erzdiözese Wien. Bis heute haben sich 2215 Betroffene an die Stabsstelle gewendet, die Fälle reichen von 1950 bis heute, darunter fällt auch beispielsweise Spiritueller Machtmissbrauch. Die Liste der Beschuldigten umfasst Priester, Erzieher, Ordensmänner und Ordensfrauen, sowie ehrenamtliche Mitarbeiter der katholischen Kirche. Diese Fälle wurden bei der Klasnic-Kommission, einer österreichweiten Opferschutzanwaltschaft, gemeldet und von der Kirche anerkannt. (Siehe Interview unten) Die Dunkelziffer dürfte viel höher sein: Erstens sind es oft Taten, die verjährt sind, oder Täter, die bereits verstorben sind. Sexueller Missbrauch verjährt laut österreichischem Recht nach zwanzig Jahren. Aber viele Opfer trauten und trauen sich nicht, an die Öffentlichkeit zu gehen – zu lange wurde diese Problematik seitens des Klerus verheimlicht und unter den Teppich gekehrt.

Der Fernsehraum des Internats

Erst Anfang 2019 hat Papst Franziskus einen Erlass mit neuen Regeln im Umgang mit Missbrauch veröffentlicht. Demnach sind alle Kleriker und Ordensleute verpflichtet, den kirchlichen Behörden „unverzüglich alle ihnen bekannt gewordenen Berichte über Missbrauch zu melden“. Sie müssen außerdem jeden Versuch anzeigen, die Tat zu vertuschen und den Täter zu decken. Nach Jahrzehnten, in denen sexueller Missbrauch in der Kirche verschwiegen und vertuscht wurde, bleibt das Thema aber trotz jüngster Bemühungen ein Tabuthema – vor allem auch unter den Opfern. Im Zuge meiner Recherche nehme ich Kontakt zu mehreren Betroffenen auf, die nach Telefonaten und E-Mail-Austausch doch nicht möchten, dass ihre Geschichte erzählt wird. Es sind oft schon erwachsene Menschen, die in Tränen ausbrechen – zu groß ist die Angst vor der Stigmatisierung. Nicht so bei Klaus Oberndorfer, der seine Leidensgeschichte zuletzt der Rechercheplattform Addendum anvertraute. Biber liegen über 300 Seiten Gerichtsdokumente aus dem Prozess von 1970 vor, in den Oberndorfer verwickelt war. In den Dokumenten sind die Zeugenaussagen der Opfer sowie die des Pfarrers genau dokumentiert. Oberndorfer erinnert sich: „Wir hatten einen Fernsehraum. Da saßen immer beim Fernsehen ein, zwei Kinder auf seinem Schoß und er hat mit den kleinen Penissen rumgespielt. Das haben alle gesehen, bis zu fünfzig Kinder“, sagt er mit ernster Miene. Das erste Mal, als der Priester ihn anfasste, war Klaus Oberndorfer elf Jahre alt.

„Wir kannten die Welt nicht. Wir waren kleine Kinder und dachten, wir werden bestraft, weil wir schlimm waren. Er hat uns ja immer Vorwürfe gemacht.“ Wenn das Bett zum Beispiel nicht ordentlich gemacht war, das Hemd nicht genauestens gefaltet, wussten die Jungen schon, was sie erwartet. Wer den strengen Regeln des Priesters nicht folgte, wurde verprügelt oder sexuell misshandelt. Die Schüler nahmen das alles so hin, sie dachten, sie wären selbst dafür verantwortlich. Bis irgendwann endlich einer der Jungen seinen Eltern von den Taten des Priesters erzählte. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, bei der der Priester zu zwölf Monaten schweren Kerkers verurteilt wurde (Anm. d. Red.: Ein Raum, in dem eine Beton-Pritsche zum Schlafen stand und man nur Brot und Wasser bekam). Aber nicht aufgrund der Vergewaltigungen und des sexuellen Missbrauchs, der Hauptanklagepunkt lautete „Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts“. Homosexuelle Handlungen waren laut österreichischem Recht bis 1971 nämlich illegal.

So wurde auch Oberndorfer verurteilt – aus dem Opfer wurde er zum Täter gemacht. „Zwei Monate schweren Kerkers, bedingt. Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Da ich ja sexuelle Handlungen mit demselben Geschlecht vollzogen habe, wurde auch ich verurteilt.“ Die Strafe musste Oberndorfer nicht absitzen, da die Strafe auf Bewährung ausgesprochen wurde. „Ich solle einfach nichts Unzüchtiges mehr mit Männern machen“, hörte Oberndorfer bei seinem Urteil. Die psychischen und physischen Narben aber trägt der Mann bis heute. Sein Täter, ein mittlerweile sehr alter Mann, lebt noch. Nach seiner Haftentlassung bekam der Priester sogar noch eine Stelle an einem theologischen Institut einer Universität in Österreich – und arbeitete somit weiter mit jungen Menschen.

Ein Auszug aus dem Gerichtsprotokoll 1970/Bereitgestellt

Ein Auszug aus dem Gerichtsprotokoll 1970/Bereitgestellt

„Der Priester war ja ansonsten immer gut zu uns. Also hat das keiner hinterfragt.“

„Dass wir zwei jetzt einfach miteinander telefonieren und darüber sprechen, wäre in den 70ern undenkbar gewesen, Aleksandra“, erzählt mir der heute 57-jährige Klaus Fluch, der während seiner Schulzeit Anfang der 70er Jahre im österreichischen St. Gallen jahrelang von einem Priester missbraucht wurde. Herr Fluch und ich teilen unsere Kommunikation auf mehrere Telefonate und Sprachnachrichten auf. Es dauert aber nicht lange, bis eine gegenseitige Vertrauensbasis aufgebaut ist. „Ich habe ja lange nicht mal gewusst, dass das sexueller Missbrauch ist, was mir da geschieht. Dass die ersten Erfahrungen, die ich eigentlich hätte mit Mädchen machen sollen, mit einem viel älteren Priester waren.“ Auch er macht der katholischen Kirche Vorwürfe was den Umgang mit diesen Fällen betrifft. In der Kirche sei das Thema Macht und Machtmissbrauch seit Jahrhunderten präsent, es ist immer wieder dasselbe Muster. Wie in seinem Fall: Fluch stammte aus einer sozial schwachen Familie. „Genau solche Kinder wie mich hat sich der Pfarrer ausgesucht. Bei der Beichte fragte er mich genau über die Verhältnisse zuhause aus. Er wusste, dass er uns mit gutem Essen und der Aufmerksamkeit, die wir daheim nicht hatten, locken kann. Er wusste genau Bescheid, dass wir am angreifbarsten waren.“ Fluch war elf Jahre alt, als der Dorfpfarrer ihn und seinen gleichaltrigen Freund zum ersten Mal zu sich in den Pfarrhof einlud. Der Pfarrer war auch der Religionslehrer der beiden Jungen. Der Ablauf der „Besuche“ war immer gleich: In der Pfarrkanzlei stellte der Priester vor einen Schreibtisch zwei Stühle hin und begann, die Jungen über ihr Privatleben auszufragen. Er wollte wissen, „was mit den Mädels läuft“ und ob die beiden schon erste sexuelle Erfahrungen gemacht hatten. „Er erklärte uns, dass Kinder entstehen, wenn ein Schwanz in eine Möse kommt. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutet.“ Fluch vermutet heute, dass diese Gespräche den Priester sexuell erregt haben. „Nachdem er uns ausgefragt hatte, mussten wir die Hose bis zu den Knöcheln hinunterziehen. Dann ist das Licht vollständig ausgegangen.“ Der Pfarrer kroch unter dem Tisch durch und begann, die zwei Jungen mit der Hand zu befriedigen. „Er begann, uns Anweisungen zu geben, wie wir onanieren sollten. Ich wusste ja gar nicht, was das soll. Ich hatte ja damals noch nicht mal eine richtige Erektion.“  Er erinnert sich, dass ihm danach der Intimbereich tagelang wehgetan hat. Fluch war sich aufgrund seines geringen Alters und mangelnder sexueller Aufklärung nicht im Klaren, was hier passiert. Klar war nur eines: Sie dürften es niemandem erzählen, denn das wäre eine Todsünde und dann würden die beiden tot umfallen. Sie glaubten ihm. „Der Priester war ja ansonsten immer gut zu uns. Also hat das keiner hinterfragt.“ Er genoss sehr hohes Ansehen im Dorf, die Bewohner zeigten große Ehrfurcht vor ihm. Heute glaubt er, dass das eine riesige kollektive Angst war, die da mitspielte. „Der Pfarrer hat ja über 30 Jungen missbraucht. Es kann nicht sein, dass keiner davon wusste.“ Tatsächlich: Als Fluch und sein Freund einmal daheim davon erzählten, dass sie ihn oft besuchen würden, hieß es seitens der Eltern nur: „Gehts nicht zu dem. Der pudert euch in den Arsch, da rinnt’s euch die Suppn obe.“ Was das bedeutete, wusste Fluch damals auch nicht.

„Du Dreckschwein, halt die Goschn, du Kinderschänder.“

 „Ich war nur froh, dass ich nie eine ganze Nacht bei ihm verbringen musste. In unserer Gemeinde gab es einen taubstummen Jungen, der die Nächte manchmal beim Priester verbrachte und dabei jämmerlich geschrien hat. Der Priester hat uns erklärt, dass der Junge sich nachts alleine fürchtet und er deshalb bei ihm im Zimmer schlafen muss. Wir dachten nur, dass es gut sei, dass der Herr Pfarrer bei ihm schläft, er würde ihn schon trösten.“ Dass die gedämpften Schreie des Jungen davon kamen, dass er nächtelang vergewaltigt wurde, realisierte Fluch erst nach Jahren. Nach Jahrzehnten der Therapie und Aufarbeitung war es dann soweit: Fluch vertraute sich dem befreundeten Dorfarzt an und auf Drängen dessen kam es dann zu einem Gespräch zwischen Fluch, zu dem Zeitpunkt schon erwachsen, und seinem Täter, damals schon einem sehr alten Mann. Wieder in den Pfarrhof zu gehen, in dem ihm die Leidensgeschichte widerfahren ist, war sehr schwer. Der Pfarrer hat versucht, sich zu erklären. „Er meinte, dass, wenn man in einer lieben, guten Familie groß wird, dann wird man nicht pädophil.“ Der Pfarrer hätte in seiner Kindheit nie richtige Liebe erfahren, er war in einem katholischen Heim aufgewachsen, in dem Frauen immer schlechtgeredet wurden. Seinen kläglichen Erklärungsversuchen folgte eine Drohung, er würde sonst dafür sorgen, dass Fluch in ein Heim für psychisch Abnorme käme. Fluch solle solange der Priester lebt ja nicht mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit gehen. „Was du danach machst, ist mir wurscht, da kommt eh die Sintflut.“ Alles, was Fluch dem Pfarrer danach zu sagen hatte, war: „Du Dreckschwein, halt die Goschn, du Kinderschänder.“ Und er redete. Er ging mit seinem Fall an die Öffentlichkeit, allerdings wurde ihm zu dem Zeitpunkt erklärt, dass der Pfarrer bereits kürzlich verstorben war.  “Ob das stimmt, weiß ich bis heute nicht. Kann sein, dass sie es einfach nur vertuschen wollten.“  Sein Täter wurde nie bestraft. Wie es ihm heute geht? „Sehr gut. Sehr gut heißt für mich, dass ich nachts mittlerweile nicht mehr von dem Priester träume.“ Aber noch heute, wenn er einen Geistlichen sieht, stockt ihm der Atem. „Ich hoffe, dass Kirchen wie Burgen und Schlösser als Ruinen enden werden, auf die man nur mit einem weinenden Auge zurückblicken kann“, sagt er abschließend.

„Aber sag’s bloß keinem“

Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche sind ein weltweites Problem. Der oscar-gekrönte 2016 erschienene US-Film „Spotlight“ behandelt Enthüllungen eines von der Kirche vertuschten Missbrauchsskandals, der sich Ende der neunziger Jahre im Erzbistum Boston zugetragen hatte. Der Film basiert auf einer wahren Geschichte. Die polnische Dokumentation „Sag’s bloß keinem“ (Pl. „Tylko nie mow nikomu“), die im Frühling dieses Jahres erschienen ist, deckt mit versteckter Kamera Fälle von Missbrauch durch polnische Priester auf – und wird von der polnischen Regierung und Kirche hart kritisiert. Die konfrontierten Täter, meist schon sehr alte Männer, versuchen mit „Dämonen“ und „dem Teufel“ ihre Taten zu Rechtfertigen. In Polen, wo die katholische Kirche den in Europa höchsten Stellenwert in der Gesellschaft hat, wird diese Thematik nach wie vor unter den Teppich gekehrt. So rät beispielsweise ein 2018 erschienenes Unterrichtsbuch, das bei dem polnischen katholischen Verlag „Wydawnictwo M“ erschienen ist, dass junge Mädchen bei sexueller Belästigung ihrem Täter nicht zeigen sollen, dass das Verhalten unpassend ist. Sie könnten ihn ja verärgern. Auch Miniröcke würden rechtfertigen, wenn sie belästigt oder gar missbraucht werden. „Ich kann nicht glauben, dass diese Scheiße heute noch gepredigt wird. Genau wegen dieser Denkweise ist mir das alles als Mädchen passiert.“ Die heute 32-jährige Polin Anna Zalewska* vergräbt die Hände in ihrem Gesicht, als sie mir gegenübersitzt. Ich bin nach fast zwanzig Jahren die erste Person außerhalb ihrer Familie, der sie ihre Leidensgeschichte anvertraut – unter der Bedingung, anonym zu bleiben. Jahrelang hat sie versucht, zu verdrängen, was ihr passiert ist. Zalewska war zwölf, als ihre Klasse einen neuen Religionslehrer bekam, Priester Bartlomiej*. „Er war jünger als die anderen Lehrer, er erzählte lustige Witze. Er hatte einen guten Draht zu uns Kindern“, erzählt die Frau mit einem traurigen Lächeln. In der kleinen polnischen Ortschaft, in der Zalewska aufwuchs, genoss der Priester Bartlomiej* auch unter den Erwachsenen ein hohes Ansehen. Dass er sie also aufforderte, nach der Schule mit ins Pfarrhaus zu kommen, war für sie damals eine Ehre. Es blieb nicht bei dem einen Treffen. Sie tauschten Handynummern aus, unter immer wieder neuen Vorwänden trafen sie sich in seinem Zimmer im Pfarrhaus. Bei jedem Mal wurde er etwas anzüglicher, lockerer und kam ihr immer näher. Bis ihr der damals 30-Jährige nach ein paar Wochen prompt gestand, dass er sich in sie verliebt hätte. „Und weißt du, wenn Erwachsene sich lieben, dann gibt es so Dinge, die sie miteinander machen. Aber es muss unter uns bleiben, ich möchte nicht, dass jemand eifersüchtig wird“, offenbarte er ihr. So kam es dazu, dass sie im Alter von zwölf Jahren zum ersten Mal mit ihm schlief. Sie erinnert sich noch gut an das hölzerne Kruzifix, das über seinem Sofa hing. Dem Sofa, auf dem sie mit ihm Sex hatte. „Ich hatte gar keine Ahnung, was wir da tun. Ich war ein Kind, es tat weh, es war unangenehm. Aber er hat mir immer wieder gesagt, wie besonders ich sei und wie sehr er mich liebte“, erzählt sie leise. „Dass er eigentlich als Priester dem Zölibat unterlag, wusste ich. Das Thema hatten wir sogar in der Woche davor mit ihm im Religionsunterricht behandelt.“

„Er sagte, sein Sperma sei wie die Eucharistie bei der Messe“

Er manipulierte sie aber derart, dass sie nichts hinterfragte. Er erklärte mir, wie ich ihm einen blasen soll, hat Dinge gesagt wie: „Mein Sperma ist so etwas wie die Liebe Gottes, wie die Eucharistie bei der Messe. So wichtig, wie das Vaterunser.“ Also tat sie es, und glaubte ihm. Das ist heute schwer vorstellbar, aber vor zwanzig Jahren in Polen genossen Priester eine derartige Anerkennung. „Sie wurden uns von klein auf als Übermenschen, als Gesandte Gottes dargestellt.“ Was er sagte, musste also stimmen. Die Affäre mit dem Priester ging über zwei Jahre. „Ich glaubte damals, in ihn verliebt zu sein. Aber das war meine allererste Erfahrung mit einem Mann, ich hatte davor nicht mal wen auf den Mund geküsst. Meine Freundinnen sprachen über erste Küsse, während ich schon Dinge getan hatte, die ich heute nicht einmal mit meinem Ehemann tue. Ich konnte und wollte also so oder so nicht mitreden“, sagt sie kopfschüttelnd. Am Montag saß sie bei ihm im Religionsunterricht, am Mittwoch hatte sie Sex mit ihm und am Sonntag ging sie zu ihm gemeinsam mit ihrer Familie in die Messe. Alles änderte sich, als Anna sich mit vierzehn in einen Jungen aus ihrer Parallelklasse verliebte. „Mit ihm hatte ich dann diese Dates auf der Parkbank, das Händchenhalten, die ganzen unschuldigen Dinge, die man in meinem Alter machen sollte. Nicht das, was ich mit dem Priester erlebt hatte…“. Priester Bartlomiej erfuhr davon und drohte ihr mit einer negativen Note, wenn sie nicht mit ihrem Freund schlussmachte. Erst da bekam Frau Zalewska wirklich Angst und erzählte alles ihrer Mutter. Daraufhin suchten die Eltern noch am selben Tag das Gespräch mit dem Pfarrer der Dorfkirche. „Sie wissen ja, wie Teenager-Mädchen so sind. Sie hat sich wahrscheinlich in ihn verliebt und hat jetzt Angst bekommen. Und wenn es so schlimm war, wozu ist sie dann immer wieder zu ihm hingegangen? Ich werde diesen Fall sicher nicht zur Anzeige bringen“, war alles, was der Pfarrer dazu zu sagen hatte. Also zeigten sie ihn selber an. „Dieses Gerichtsverfahren war lang, beängstigend und grauenhaft. Ich musste in allen Details erzählen, was mir widerfahren ist. Das Schlimmste war aber, dass die ganze Zeit über für ihn die Unschuldsvermutung galt. Und dass mir niemand von diesen alten, faltigen Männern oben auf der Richterbank so richtig glaubte. Der Priester hatte es so dargestellt, dass ich ihn damals verführt hatte. Ich war zum Zeitpunkt des Verfahrens ja selbst erst fünfzehn, irgendwann habe ich mich selbst gefragt, ob es vielleicht doch meine Schuld sei.“ Diese Schuldgefühle lassen sie auch bis heute nicht los.

„Er wurde nur in eine andere Pfarre verlegt und ist heute noch tätig“

Ihre Eltern standen hinter ihr, der Verteidiger des Priesters legte aber eine exzellente Show hin. “Alles, was wir damals geschafft hatten, war, dass Priester Bartlomiej verlegt wurde. In eine Pfarre 50 km von meinem Heimatort, und ein Verbot, mit Kindern zu arbeiten.“ Der Grund für die milde Strafe: Fehlende Beweise. Anna Zalewskas seitenlanges Geständnis sowie die anzüglichen SMS des Priesters an das Mädchen galten dabei nicht als solche. Es stand Aussage gegen Aussage. „Ich wollte das Ganze verdrängen. Aber ich habe jetzt eine kleine Tochter und als Mutter denkst du nochmal anders. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn meinem Kind so etwas widerfahren würde. Soviel ich weiß, arbeitet dieses Arschloch aber heute trotz des Verbots noch mit Jugendlichen.“ Tatsächlich: Eine nicht allzu aufwändige Recherche ergibt, dass der Priester auch heute noch in seinem Amt tätig ist. In der Ortschaft, in die er verlegt wurde. Der letzte Eintrag der Homepage der Pfarre zeigt ihn lachend bei einem Sommerfest der Kirche, um ihn herum stehen Kinder.

INFOBOX: Wie wird das heute in Österreich gehandhabt?

„Heute ist das Bewusstsein viel höher“ – Diözesane Kommission

„Früher war es auch möglich, dass verurteilte Täter einfach in eine andere Pfarre versetzt wurden“, erzählt Matthias Theil von der Diözesanen Kommission gegen Missbrauch und Gewalt. Heute ist diese Kommission dafür zuständig, Empfehlungen an den Bischof abzugeben, wie er mit Beschuldigten umgehen soll. Ein Versetzen wie früher sei daher nicht mehr möglich. In den letzten Jahren steige auch die Sensibilität der Menschen und es gebe einen Zuwachs an Meldungen über unkorrektes Verhalten, noch lange bevor etwas Schwerwiegendes passiert sei. Das Bewusstsein sei einfach größer geworden. „Heute traut sich eine 16-Jährige zu sagen, dass sexistische Witze oder unangenehme Nähe für sie nicht in Ordnung sind, und das auch zu melden. Vor dreißig Jahren hätte das nicht jeder ernstgenommen.“

„Im Zweifelsfall glauben wir dem Opfer“ – Interview mit Herwig Hösele, Klasnic Kommission

Die Klasnic Kommission ist eine Opferschutzanwaltschaft und ergreift und beschließt Maßnahmen und Initiativen –finanzielle und therapeutische – im Interesse von Betroffenen, die im Kindes- oder Jugendalter Opfer von Missbrauch oder Gewalt durch VertreterInnen und Einrichtungen der katholischen Kirche in Österreich geworden sind. Sie wurde 2010 von der ehemaligen Landeshauptfrau der Steiermark, Waltraud Klasnic, gegründet. Bis 20. Mai 2019 hat die Klasnic Kommission 2.107 positive Entscheidungen getroffen, das sind Leistungen im Wert von 28,720 Mio. €, die zuerkannt wurden:

Wie kann man sich die Arbeit der Kommission vorstellen?

Herwig Hösele: Die Betroffenen melden sich bei uns oder werden uns durch die Ombudsstellen vermittelt. Dann führen Psychologen Gespräche mit den Opfern durch. Auch wenn bei Gericht oder anderswo entschieden wird, dass der Täter meist mangels Beweise und Zeugen unschuldig ist, die Geschichte des Opfers aber plausibel erscheint, sind wir auf der Seite der Betroffenen. Natürlich prüfen wir nach, ob die Rahmeninformationen stimmen, wenn das der Fall ist, wird zugunsten des Opfers entschieden.

Die hoch sind die finanziellen Entschädigungen?

Die Opfer bekommen in der Regel von 5.000 € bis über 25.000 €, je nach Fall, wobei wir bewusst finanzielle Hilfeleistungen sagen, weil entschädigt kann das zugefügte Leid nicht werden.

Die meisten Fälle liegen Jahrzehnte zurück, wie sieht das heute aus?

Es ist besser geworden. Heute glaubt man den Kindern mehr. „Der Herr Pfarrer ist Autoritätsperson“ hieß es früher oftmals. Grundsätzlich ist Gewalt oft in geschlossenen Heimen und Internaten, die es heute nicht mehr gibt, an der Tagesordnung gewesen. Heute wird der Zölibat oft einfach anderswertig gebrochen, sprich die Geistlichen haben Affären mit Frauen.

Ist der Zölibat an sich das Problem?

Ich denke nicht. Ich denke, das Wesentliche ist die Ausbildung von Pädagogen und natürlich auch die Priesterausbildung. In vielen Priesterseminaren wurden früher einfach alle Bewerber genommen, weil der Nachwuchs einfach immer weniger wurde. Darunter fallen dann auch verhaltensauffällige Menschen. Mittlerweile ist die Aufnahme viel strenger geworden.

Sehenswert :

„Die Kinder lassen grüßen“

Ein beeindruckender Film der österreichischen Regisseurin Patricia Marchart, in dem Opfer sexuellen Missbrauchs seitens der katholischen Kirche gemeinsam mit ihr die Orte besuchen, an denen sie als Kinder missbraucht wurden. Zu sehen auf YOU Tube: https://www.youtube.com/watch?v=N-ncgDvASwk&t=8s&pp=ygUaZGllIGtpbmRlciBsYXNzZW4gZ3J1ZXNzZW4%3D

Der Mann, der Merkel täuschte

in Deutschland, Medienberichte, Missbrauch, Politik, Pressemeldungen

Warum kommt die katholische Kirche nicht aus dem Missbrauchsskandal heraus? Die Erklärung findet sich in dramatischen Tagen Anfang 2010. Wie Deutschlands oberster Bischof Robert Zollitsch eine staatliche Aufklärung vereitelte – und wie eine Entscheidung der Kanzlerin bis heute nachwirkt.

Der Mann, der in den folgenden Wochen die Aufarbeitung monströser Verbrechen verhindern wird, steht am Verkaufswagen auf dem Münsterplatz und wartet auf seine Wurst. Mit oder ohne Zwiebeln, das ist die Frage, wenn man sich in Freiburg eine Münsterwurst kauft, aber in dem kurzen Film auf dem YouTube-Kanal des Erzbistums Freiburg aus dem Februar 2010 ist nicht zu erkennen, wie er sich entscheidet. Nur Wurst, Wecken und Einwickelpapier sieht man. Der Mann, schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, weißer Priesterkragen, nimmt das Essen entgegen. Er beißt ab.

Der kurze Film präsentiert einen, der bodenständig auftritt trotz seiner Position: Robert Zollitsch, damals 71 Jahre alt, Erzbischof von Freiburg, Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Er sagt in die Kamera, dass hier im Münster demnächst die Bischöfe aus dem ganzen Land Gottesdienste feiern werden, wenn sie erstmals ihre Vollversammlung in Freiburg abhalten. Er will glänzen in seiner Stadt. Er erzählt von der südbadischen Gastfreundlichkeit, von der Universität, von den Bächle, jenen kleinen Wasserläufen in der Innenstadt. Zollitsch schwärmt: „In Freiburg fängt Italien an.“

Doch in diesem Moment, im Februar 2010, rollt auf den Vorsitzenden und seine Kirche gerade ein gewaltiger Skandal zu. Schüler des katholischen Canisius-Kollegs in Berlin hatten kurz zuvor den Mut, zu enthüllen, dass sie von Jesuitenpatres sexuell missbraucht wurden. Der Rektor Pater Klaus Mertes glaubte ihnen. Es gab eine Pressekonferenz an dem Gymnasium, seither haben Menschen in ganz Deutschland berichtet, was ihnen angetan wurde: Geistliche begrapschten, quälten und vergewaltigten Kinder und Jugendliche.

Dieser Skandal türmt sich vor der Versammlung der Bischöfe in Freiburg auf wie eine Gewitterfront. Unter den Bischöfen igeln sich manche ein, andere ärgern sich über Pater Mertes, sehen in ihm einen Nestbeschmutzer. Man will auch was tun, agieren, nicht reagieren. Der Sekretär der Bischofskonferenz, Pater Hans Langendörfer, sagt: „Wir ducken uns nicht weg, sondern wir wollen die Aufklärung.“

Aufklärung, natürlich. Die Frage ist, was man darunter versteht. Betroffene erzählen damals ihre Geschichten. Anders als vorher wird ihnen geglaubt, die Öffentlichkeit nimmt sie ernst. Nur liegt es im Februar 2010 noch jenseits der Vorstellung der Kirchenchefs, dass Außenstehende hinter die Mauern ihrer Büros schauen. Dass Fremde Personalakten sichten, Gesprächsprotokolle auswerten oder gar die besonders geheimen Giftschränke öffnen. Wer hat Taten vertuscht? Welcher Personalchef hat Täter in eine andere Pfarrei versetzt und riskiert, dass er dort weiter Kinder missbraucht? Was wusste der jeweilige Bischof? Diese Fragen müssen Kirchenhierarchen heute immer wieder beantworten – peinlich genau, auch gegenüber Gutachtern, die sie notgedrungen selbst beauftragten, erst viele Jahre später. Aber 2010 ist das Thema in Deutschland neu, auch in der Politik. „Es war einfach eine kribbelige Situation, was mit Kirchen los war“, so beschreibt die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan in der Rückschau die Stimmung.

Anfang 2010 beginnen entscheidende Tage. Mehr als 13 Jahre ist das nun her. Mehr als 13 Jahre zieht sich der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche schon hin. Jahr um Jahr kommt Neues hoch, sexualisierte Gewalt und ihre Vertuschung werden an neuen Orten enthüllt, mit anderen handelnden Personen. Immer geht es auch darum, wie Bischöfe und ihre Mitarbeiter abwiegelten, Täter deckten oder sich nicht um Betroffene scherten. Immer wieder kommt die Frage auf, warum die Aufarbeitung so lange dauert. Wieso hat der Staat sie nicht erzwungen? Weshalb darf die Kirche die Aufarbeitung selbst in der Hand behalten?

Um neu aufzurollen, was 2010 gelaufen ist, hat Christ&Welt Bischöfe und Kirchenfunktionäre befragt sowie alle drei damals involvierten Bundesministerinnen. Zollitsch lehnte ein Interview über seinen Rechtsvertreter ab. Auch die frühere Kanzlerin Angela Merkel ließ ihre Büroleiterin absagen. Für die Recherche ausgewertet wurden Unterlagen des Kanzleramts und ein dieses Jahr erschienenes Freiburger Aufarbeitungsgutachten im Auftrag einer Kommission beim Erzbistum; dazu Pressemitteilungen, Zeitungsberichte und Fernsehsendungen. Natürlich ist der Wissensstand heute ein anderer, aber es ist eben auch die Gegenwart, die bis heute von den Ereignissen 2010 beeinflusst wird – und vom Handeln dreier Personen: Erzbischof, Kanzlerin und Justizministerin.

Da ist Zollitsch, der Mann mit der Bratwurst, der sich gern bescheiden gibt. Er trägt oft Baskenmütze statt Bischofsmitra, hat es eigentlich nicht nötig, laut zu werden, denn er sieht sich in einer Liga mit der Kanzlerin. Er ist Erzbischof, ein Mann der Geistlichkeit, ein Hirte und Seelsorger – doch das täuscht über seine andere Rolle hinweg: Er ist Akteur der Bundespolitik und kein unbedeutender. Wenn er im Herbst einlädt zum katholischen Sankt-Michaels-Empfang in Berlin, kommt die Kanzlerin persönlich.

Der Erzbischof gilt damals als kirchenpolitisch liberal, als seriöser Finanzfachmann; das sind ideale Voraussetzungen für den obersten Lobbyisten einer Kirche mit damals noch knapp 25 Millionen Mitgliedern und knapp fünf Milliarden Euro Einnahmen allein aus Kirchensteuern. All das macht ihn zu einem Berliner Player erster Ordnung – und, wie man heute weiß, einem Täuscher in der ersten Reihe.

Doch erst im April 2023 wird ein fast 600 Seiten langes Gutachten im Auftrag einer vom heutigen Erzbischof berufenen Kommission ergeben, dass Zollitsch reihenweise Missbrauchsfälle vertuschte und Täter heimlich versetzte, ohne sie zu bestrafen. Zunächst, von 1983 bis 2003, war er Personalreferent in Freiburg. Der damalige Erzbischof Oskar Saier ließ ihn die Missbrauchsfälle eigenständig regeln: „Robert, erledige du das!“, wird dieser im Gutachten zitiert. Weil Zollitsch 2003 Saier nachfolgte, konnte er die Vertuschung als Bischof fortsetzen. Die Gutachter werfen ihm sogar die Beseitigung von Akten vor. Sie kritisieren „weitgehende Rechtsignoranz“. Sie sehen eine „manifeste, vertuschungsgeprägte antijuridische Haltung des Erzbischofs Dr. Zollitsch im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen gegen Kleriker.“

Nichts davon dürfte im Februar 2010 jene Frau geahnt haben, auf die Zollitsch bei seinen Manövern in den nächsten Wochen dringend angewiesen sein wird: Angela Merkel. Sie ist verwundbar, denn in dieser Zeit ist die katholische Kirche noch viel tiefer in CDU und CSU verankert als heute. Und manchmal wirkt es, als müssten sich die Parteien das C bei den Bischöfen verdienen. Die Kanzlerin, evangelische Pfarrerstochter, muss achtgeben. Im Jahr zuvor hat sie Katholiken in ihrer Partei erzürnt, weil sie Papst Benedikt unverblümt kritisiert hatte – wegen dessen Umgang mit der ultrakonservativen Piusbruderschaft und dem Holocaust-Leugner Bischof Richard Williamson.

Merkel, die Protestantin, möchte als CDU-Chefin und Kanzlerin die Bischofskonferenz auf ihrer Seite haben. Der Katholizismus gehört zum Kohl’schen Erbe, das sie für die Union sichern muss. Und die Macht, die die Bischöfe der CDU leihen können, die will Merkel 2010 auch für sich haben. Insofern ist der Ärger um die Piusbrüder eine Irritation, ein Ausrutscher, der auch rausfällt aus der Logik der Kanzlerin: Sie schafft sich lieber Verbündete als Gegenspieler, sie moderiert Konflikte, statt Probleme zu fokussieren.

Nicht zu diesem Stil Merkels passt die Geschichte ihrer Justizministerin in der schwarz-gelben Regierung: Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat unter Kohl einen Konflikt ausgereizt. Sie war auch da Justizministerin, ein Profi, doch als es 1995 um den Großen Lauschangriff ging, der der Polizei das Abhören von Wohnungen erlauben sollte, gab die FDP dem Drängen der Union nach. Leutheusser-Schnarrenberger trat aus Protest zurück. Sie ging den ganzen Weg. Es rumste.

Der Erzbischof spricht den Missbrauchsskandal an

2010 kommt wieder ein Moment, in dem sie Haltung zeigt angesichts der Verbrechen, die Priester an Kindern und Jugendlichen begangen haben. Leutheusser-Schnarrenberger, evangelisch, legt sich mit Zollitsch an. Doch der eskaliert den Streit, telefoniert mit der Kanzlerin und konterkariert die Pläne der Ministerin. Die Rekonstruktion von Christ&Welt ergibt, wie es Zollitsch gelungen ist, den Staat aus der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals herauszuhalten, vor und hinter den Kulissen. Erst fuhr er einen beispiellosen öffentlichen Entlastungsangriff. Dann lancierte die Bischofskonferenz mithilfe das Kanzleramts einen Runden Tisch, der ein konkurrierendes Vorhaben der Justizministerin verdrängte und an dem die Kirche unbehelligt von fremder Aufarbeitung blieb.

Und heute, 13 Jahre später, sagt Leutheusser-Schnarrenberger: „Die Aufarbeitung des Missbrauchs ist keine Erfolgsgeschichte.“ Wie es dazu kam, soll hier rekonstruiert werden, jene Wochen, als sich entschieden hat, wie die Kirche mit der Gewitterfront umgehen würde, die auf sie zurollt vor ihrer Versammlung in Freiburg im Februar 2010.

Papst Pius XII. und der Holocaust

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Brief im Vatikan aufgetauchtPapst Pius XII. und der Holocaust

Stand: 08.10.2023 11:16 Uhr

Seit Jahrzehnten beschäftigt nicht nur die katholische Kirche die Frage, was Papst Pius XII. vom Holocaust wusste – und warum er sich nicht energisch dagegen stellte. Ein Brief schafft nun Klarheit.

Es ist ein vergilbtes Blatt Papier, eng beschrieben mit einer Schreibmaschine. Ein Brief, datiert auf den 14. Dezember 1942, der vor kurzem gefunden wurde in den päpstlich-vatikanischen Archiven. Und der eine neue Antwort gibt auf die seit Jahrzehnten diskutierte Frage: Was wusste Papst Pius XII. von den Verbrechen in Nazi-Deutschland?

Dieser Brief, sagt Giovanni Coco, sei so bedeutsam, weil „er der einzig verbliebene Beleg eines Schriftwechsels zwischen dem Sekretariat Pius XII. und dem deutschen Widerstand“ sei.

Coco sitzt in einem Nebenraum der Archive am Belvedere-Hof vor den Vatikanischen Gärten. Der Archivar und Historiker hat den mehr als 80 Jahre alten Brief entdeckt. Ein Dokument, in dem der Vatikan darüber informiert wurde, dass täglich die Leichen von 6.000 Menschen, vor allem Juden und Polen, vernichtet werden in den SS-Verbrennungsöfen in der Nähe von Rawa Rus‘ka, also im Vernichtungslager Belzec. Auch Auschwitz wird erwähnt.

Nachricht „aus dem Inneren des Dritten Reiches“

Die alarmschlagende Botschaft im Schreiben an das Sekretariat von Papst Pius: Die Nazis machten „tatsächlich ernst“ mit der Ausrottung der Juden und Polen. „Es ist eine Stimme aus dem Bauch des Drachens“, sagt Coco. Sie komme direkt aus „dem Inneren des Dritten Reichs“, mit Informationen, die im Widerstand kursierten. Der Vatikan-Archivar betont: „Diese Informationen, darüber haben wir nun Gewissheit, gelangten bis zu den Ohren des Papstes.“

Geschrieben ist der brisante Brief vom deutschen Jesuitenpater Lothar König, ein enger Bekannter des damaligen persönlichen Sekretärs von Papst Pius, Robert Leiber. König war für den bürgerlichen Widerstandszirkel Kreisauer Kreis tätig als eine Art Kurier und Verbindungsmann zum Vatikan. Sein Brief aus dem Dezember 1942 lag nach Pius‘ Tod jahrzehntelang unentdeckt im Vatikan.

Bis 2019, unter Papst Franziskus, aus dem Staatssekretariat große Mengen an Dokumenten aus der Zeit des Papstes, der die katholische Kirche im Zweiten Weltkrieg führte, den vatikanischen Archiven zur Verfügung gestellt wurden. Ungeordnet und durcheinander.

Archivar Coco machte sich an die Arbeit – bis ihm das brisante Papier in die Hände fiel. Der Brief sei ihm aufgefallen, erklärt Coco, „weil er nicht mit vollständigem Namen unterzeichnet war. Sondern mit ‚euer Lothar'“. Auch die Anrede „Lieber Freund“ haben ihn aufhorchen lassen: „Das gab den Anstoß, diesen Brief genauer zu lesen.“

Die Zweifel sind beseitigt

Ein Brief, der keine Zweifel mehr lässt: Papst Pius XII. war gut, war sehr gut informiert darüber, dass die Nazis systematisch und massenhaft Juden ermordeten. „Zu behaupten, dass es wenig Informationen gab oder dass sie wenig glaubhaft waren, ist wirklich schwierig“, sagt der beim Vatikan angestellte Coco. Hier spreche „eine vertrauenswürdige, sehr gut informierte Quelle, der man sehr viel Glauben schenkt“.

Bemerkenswert ist, dass dieser neue Beweis über Pius‘ Wissen der Nazi-Verbrechen direkt und ungefiltert aus dem Vatikan selbst kommt. Dort wurde Brisantes früher gerne zurückgehalten.

Nun aber darf der Finder offen reden. Das Interview mit dem ARD-Studio Rom hat sich Archivar Coco von seinem Vorgesetzten genehmigen lassen – und darf es dann ohne Aufsicht unter vier Augen führen.

Was bedeutet das für die Seligsprechung?

Zu Pius XII. läuft im Vatikan seit mehreren Jahrzehnten ein Verfahren zur Seligsprechung. 2009 wurde die „geschichtliche Phase“ dieses Prozesses abgeschlossen. Der damalige Papst Benedikt XVI. sprach Pius XII. „heroische Tugenden“ zu. Um die Seligsprechung für Pius abzuschließen, ist nach den Regeln der katholischen Kirche jetzt noch der Nachweis eines durch Pius vollbrachtes Wunders notwendig.

Ob das nun gefundene Dokument Einfluss auf das laufende Verfahren zur Seligsprechung von Papst Pius XII. haben wird? Briefentdecker Coco zuckt mit den Schultern: „Ich weiß nicht, ob dieses Dokument da Gewicht haben wird.“ Das liege in der Kompetenz des Dikasteriums für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, sagt Coco und ergänzt: „Zweifellos lässt es uns das geschichtliche Wissen vertiefen – über diesen Mann und seine Zeit.“

Coco weist darauf hin, dass Lothar König, der Kurier des Kreisauer Kreises, in dem Brief auch um Stillschweigen und Vorsicht bittet. Möglicherweise, meint Coco, liege darin eine weitere Erklärung für das öffentliche Schweigen Pius‘ zu den Naziverbrechen.

Missbrauchsstudie Augsburg soll noch in diesem Jahr starten

in Deutschland, Heimkinder, Medienberichte, Missbrauch, Pressemeldungen

Die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wird die Augsburger Missbrauchsstudie noch heuer auf den Weg bringen. Forscher und Betroffene haben den Ansatz gemeinsam entwickelt. Im Fokus stehen nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Familien.

Noch in diesem Jahr soll die geplante Missbrauchsstudie für das Bistum Augsburg beginnen. Das teilte die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) am Mittwoch mit. Die Erhebung „Sexualisierte Gewalt an Minderjährigen im Kontext der katholischen Kirche im Bistum Augsburg“ werde vom LMU-Department Psychologie verantwortet. Der Untertitel der Untersuchung laute: „Psychische Belastung im Lebensverlauf, interpersonelle Faktoren und transgenerationale Effekte“. Die Studie solle die Auswirkungen sexualisierter Gewalt auf das Leben der Betroffenen sowie deren Familien untersuchen.

Augsburgs Bischof Bertram Meier sagte zur LMU-Ankündigung: „Dass die Sichtweise der Betroffenen in dieser Studie im Mittelpunkt stehen soll, dass die Betroffenenvertreter und -vertreterinnen sogar den Ansatz der Studie mitentwickelt haben, ist ein gutes Beispiel wirklicher Partizipation.“ So könne der gesamte Forschungsprozess ein wichtiges Element der notwendigen Aufarbeitung sein.

Forschungsprojekt von Aufarbeitungskommission initiiert

Zur Zielgruppe des Projekts erklärte die LMU alle Personen, die im Bistum Augsburg in ihrer Kindheit oder Jugend im Alter von bis zu 21 Jahren sexuelle Belästigung, Missbrauch oder Gewalt im kirchlichen Umfeld oder durch Geistliche, Ordensleute oder Laien in der Gemeinde erfahren hatten.

Die Initiative für das Forschungsprojekt ging von der Unabhängigen Aufarbeitungskommission und dem Unabhängigen Betroffenenbeirat im Bistum Augsburg aus. Auch der Forschungsansatz wurde gemeinsam entwickelt. Beide Gremien begleiten die wissenschaftliche Erhebung. „Die gewonnenen Ergebnisse werden unabhängig davon, wie sie ausfallen, frei zugänglich veröffentlicht“, so die Universität.

Betroffene und Familienmitglieder werden interviewt

Wenn die Betroffenen jeweils zustimmten, würden auch Partnerinnen und Partner, erwachsene Kinder oder andere nahestehende Personen interviewt. Zusätzlich zu den Interviews im ersten Teil des Projekts sollen die Erkenntnisse laut LMU in einem zweiten Teil durch eine anonyme Online-Befragung ergänzt werden.

Dass es eine eigene Missbrauchsstudie für das Bistum Augsburg geben soll, hatten die Diözese und ihre Unabhängige Aufarbeitungskommission bereits im Januar 2023 erklärt. Das Bistum finanziert die Erhebung zwei Jahre lang; das Geld dafür stammt den Angaben zufolge nicht aus Kirchensteuermitteln.

Bundesweite Studie zum sexuellen Missbrauch 2018 veröffentlicht

2018 war im Auftrag der katholischen Deutschen Bischofskonferenz erstmals eine bundesweite Studie zu sexuellem Missbrauch durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige veröffentlicht worden. An der interdisziplinären Untersuchung waren Wissenschaftler verschiedener Universitäten beteiligt. Nach ihren Standorten Mannheim, Heidelberg und Gießen wird sie auch als MHG-Studie bezeichnet. Sie wurde zum Ausgangspunkt weiterer Aufarbeitungsprojekte in den einzelnen Bistümern.

Der Pfarrer lauert hinter der Kirchentür

in Deutschland, Medienberichte, Missbrauch, Pressemeldungen

MISSBRAUCH

Die katholische Kirche hat versprochen, ihre Skandale transparent aufzuarbeiten. Doch eine
monatelange Recherche im Bistum Trier zeigt das Ausmaß ihrer Schuld. Sie zeigt auch, wie Kirchenobere mutmaßliche Täter in manchen Fällen geschützt haben – und wie einige der Opfer erneut zu Opfern wurden!

»Der Teufel lauert hinter jeder Tür.«
Reinhard Marx, Bischof von Trier, 2002 bis 2008

Das Bistum Trier reicht von Niederfischbach an der Asdorf im Norden bis Kleinblittersdorf an der französischen Grenze im Süden.
In einer Gemeinde schrieb ein Mädchen über den Pfarrer in sein Tagebuch: »Er mag es wirklich, wenn man um Hilfe schreit.« An einem anderen Ort soll ein Priester ein Kindergartenkind penetriert haben, an einem dritten erklärte ein Pfarrer einem Kind, es müsse sich komplett entkleiden, damit er es korrekt wiegen könne, aber das weiß kaum jemand, auch Karin Weißenfels nicht.
Sie fährt über die Autobahn, dann auf ein Tal zu, seitlich verrottet ein Kloster. Der Name ist ihr Pseudonym für diese Geschichte, mit ihr beginnt sie.
Ein Einzelfall, so schien es. Karin Weißenfels ist über 60 Jahre alt. In ihrer Jugend wurde Gitarrenmusik in der Kirche populär, die Altäre rückten von den Wänden weg, die Priester sprachen nicht mehr mit dem Rücken zu den Gläubigen und hielten die Messe auf Deutsch. Weißenfels gefiel das, sie besuchte eine katholische Fachhochschule und wurde Gemeindereferentin in einem der Orte des Bistums. Sie empfand das als ihre Berufung. Was geschehen ist? Sie sagt, es sei so gewesen: Es begann in den Achtzigerjahren. Sie sei zwar erwachsen gewesen, aber komplett unerfahren, Sex habe in ihrem Leben keine Rolle gespielt.
Nach ein paar Jahren in der Gemeinde habe sie der Priester, ihr Vorgesetzter und mehr als 20 Jahre älter als sie, auf einer Sommerferienfreizeit für Jugendliche das erste Mal mit Küssen überfallen. Später habe es weitere Vorfälle gegeben.
Als sie ein paar Monate später schwanger wurde, habe er ihr gesagt: Du bist zu schwach für ein Kind. Du musst abtreiben. Sonst können wir nicht zusammenbleiben. Zum Abtreibungstermin gab er ihr seinen Rosenkranz mit, braun, leicht in der Hand. Als sie zurückkam, habe er sie zur Beichte bei einem befreundeten Priester geschickt.
Einen Tag vor Weihnachten habe sie in der Wohnung des Beichtpriesters hinter dem Trierer Dom gesessen und ihm gesagt, sie sei einfach aus der Praxis gelaufen. Sie habe nicht abgetrieben, habe es nicht gekonnt. Der Beichtpriester habe eine Kerze angezündet und ihr gesagt, sie müsse abtreiben. Dann habe er ihr beide Hände auf den Kopf gelegt und ihr die Absolution erteilt: So spreche ich dich los von deinen Sünden. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Jahrzehnte später steht Weißenfels vor dem Gemeindehaus des Ortes, in dem das alles geschah, und sagt, kinderlos, alleinstehend: »Die Täter haben mein Leben schwer beschädigt, aber die Verantwortlichen des Bistums haben es zerstört.« Nach der Abtreibung war es nicht vorbei. Sie schildert die Zeit so: »Es geschah oft schnell, in fünf Minuten, im Flur, im Büro, in der Toilettenanlage, wann immer es ihm passte. Er sagte mir, sein Therapeut habe ihm gesagt, er sei sexsüchtig, und ich solle über alles schweigen. Ich dachte, dass ich ihn liebe. Er war mein Vorgesetzter, eine geistliche Autorität für mich, ich habe es nicht geschafft, mich ihm zu widersetzen. Ich habe Jahre gebraucht, um ausdrücken zu können, dass das sexualisierte Gewalt war. Danach war er jedes Mal zu Tode betrübt, weil er eine Sünde begangen hatte.« So vergingen Jahre. Seit mindestens zwei Jahrzehnten beschäftigen Missbrauchsskandale die katholische Kirche in Deutschland. Bereits 2002 wurde aufgedeckt, dass in den Vereinigten Staaten Hunderte Priester Kinder missbraucht hatten. Damals sagte Kardinal Karl Lehmann auf die Frage, ob das auch in Deutschland geschehen sein könne: »Warum soll ich mir den Schuh der Amerikaner anziehen, wenn er mir nicht passt?« Bald darauf wurde bekannt, dass er selbst einen mutmaßlichen Täter gedeckt haben soll. Die Bischofskonferenz beschloss Leitlinien zum Umgang mit solchen Fällen. Im Januar 2010 meldeten Zeitungen, dass der Jesuitenpater Klaus Mertes einen Brief an Absolventen des katholischen Canisius-Kollegs in Berlin geschickt hatte, um Missbrauchstaten
der Vergangenheit offenzulegen.
Es war der Beginn einer Reihe von Aufdeckungen, Dutzende weitere Täter wurden bekannt, in Bistümern wie Mainz, Limburg, Paderborn und Dresden-Meißen. 2014 gab die Kirche eine Untersuchung in Auftrag. Die MHG-Studie, benannt nach den Orten der beteiligten Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen, sollte das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger »durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige« ausloten. Mehr als acht Jahre nach dem Canisius-Brief wurden die Ergebnisse präsentiert. In Deutschland, so der Bericht, habe es zwischen 1946 und 2014 bei 1670 Klerikern Hinweise auf Missbrauch gegeben. 3677 Betroffene konnten ermittelt werden.
In Frankreich hat eine unabhängige Untersuchungskommission in diesem Jahr ihre Ergebnisse veröffentlicht.
Der Bericht stellt fest, dass es dort seit 1950 bis zu 330 000 minderjährige Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester und Laien in der katholischen Kirche gegeben haben könnte. Die französische Untersuchung basierte nicht auf den Akten der Kirche, wie die deutsche MHG-Studie, sondern auf Hochrechnungen aufgrund von Daten von Justiz, Staatsanwaltschaft, Wissenschaft sowie Befragungen. In Frankreich kam man zu dem Schluss: Es war ein Massenverbrechen. Karin Weißenfels ist kein Teil der MHG-Studie, sie war kein Kind, als
es geschah, und es wurde vonseiten der Kirche nie vollständig wegen eines mutmaßlichen Sexualdelikts ermittelt.
Sie lebt in einer Wohnung, die ein wenig aussieht wie ein kirchliches Informationszentrum: An den Wänden
hängen Kreuze, christliche Szenen, ein Sinnspruch. Einmal ist sie Papst Benedikt XVI. begegnet, das zeigt ein gerahmtes Foto, sie schüttelt seine Hand und senkt den Kopf, sodass sie kleiner wirkt als er. Das war, als sie noch an die Kirche glaubte. Weißenfels sitzt zwischen zwei Schreibtischen und rollt auf ihrem Stuhl hin und her, wie die Chefin einer Kommandozentrale. Sie zeigt eine Übersicht über die vergangenen 20 Jahre ihres Lebens, sie hat Hunderte Dokumente eingescannt und systematisiert, darunter viele Schreiben, in denen sie das Bistum, die Bischöfe und sogar den Papst immer wieder direkt um Gehör bittet und um Hilfe anfleht. Sie hat ein Dokument erstellt, es heißt »Was sie mir angetan haben«. Sie beschäftigt einen Anwalt und hat einen Experten für Kirchenrecht engagiert, um nachweisen zu können, dass die Kirche die Täter geschützt und ihre Fürsorgepflicht für sie verletzt hat. Es ist schwer, ihre Geschichte zu umreißen, ihr selbst erscheint jede Zusammenfassung verkürzt. Weißenfels meldete um die Jahrtausendwende das Drängen in die Abtreibung durch die beiden Priester beim Bistum Trier. Die Beteiligung an einer Abtreibung ist in der katholischen
Kirche ein Verbrechen, Papst Franziskus nannte es einen »Auftragsmord«. Bald darauf schrieb sie den Verantwortlichen von einer emotionalen Abhängigkeit und dass der Umgang von Gewalt geprägt gewesen sei, »und zwar sowohl psychischer als auch körperlicher «, zu einer Zeit, als dieser Vorwurf noch nicht verjährt war. Nach vielen Briefen, Anrufen und Gesprächen setzte Weißenfels durch, dass bei dem Priester, von dem sie damals ein Kind erwartet hatte, durch den Bischof nach monatelangen Untersuchungen eine »Irregularität
« festgestellt wurde, das bedeutet, dass er sein Weihe-Amt nicht weiter ausüben durfte. Sie bezog sich nur auf das mutmaßliche Drängen in eine Abtreibung, nicht auf einen Vorwurf von sexualisierter Gewalt. Jahre später erreichte sie das Gleiche bei dem Beichtpriester. Danach stellten die beiden Priester jeweils in Rom einen sogenannten Dispensantrag, das heißt, der Papst wurde um Gnade gebeten. Der Bischof hatte auf die Möglichkeit einer Dispens hingewiesen, beide Anträge wurden rasch positiv entschieden. Das Leben als Priester konnte weitergehen, einer von beiden, der Beichtpriester, machte Karriere in Trier.
Das Bistum Trier bestätigt auf Anfrage Teile der Geschichte, wie sie hier beschrieben ist. Der Priester, der Weißenfels’ Vorgesetzter war, habe allerdings sowohl die Mitwirkung an einer Abtreibung als auch eine mutmaßliche sexualisierte Gewalt geleugnet. Auf die Rückfrage, warum dennoch eine Irregularität festgestellt worden sei, sagt das Bistum nichts. Karin Weißenfels liegt ein Brief vor, in dem der Pfarrer sie mit »tiefem Bedauern für alles, was ich Dir an Leid und Schmerzen, an Verletzungen und Wunden zugefügt habe«, um Verzeihung bittet.
Der Täter hat an anderer Stelle eingestanden, dass er ihr eine Abtreibung nahegelegt habe.
Zwei Bischöfe waren zu jener Zeit verantwortlich, als Karin Weißenfels Konsequenzen forderte. Stephan Ackermann, der das Bistum Trier seit 2009 leitet, ist seit 2010 auch der Beauftragte der Bischofskonferenz für Fragen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich. Es ist der schwerste Job, den die Kirche in Deutschland derzeit zu vergeben hat. Ackermann gilt als etwas blass, jemand, von dem man sich kaum ein Bild machen kann.
Sein Vorgänger Reinhard Marx leitete das Bistum Trier zwischen 2002 und 2008 und ist inzwischen Erzbischof von München und Freising und Kardinal. Marx habe einen guten Draht zu Papst Franziskus, heißt es, er gilt als Lebemann, ein Machtmensch, die »Zeit« hat ihn mit Gerhard Schröder verglichen. Anfang Juni 2021, nach ein paar Gesprächen in der Weißenfelsschen Kommandozentrale, meldet die katholische Nachrichtenagentur KNA: »Marx bietet Papst Rücktritt an.« Kardinal Marx hatte Franziskus scheinbar aus
dem Nichts einen Brief geschrieben. Er sprach keine konkreten Fehler an, die er selbst gemacht hat, er schrieb aber: »Nach der von der Deutschen Bischofskonferenz beauftragten MHG-Studie habe ich in München im Dom gesagt, dass wir versagt haben. Aber wer ist dieses ›Wir‹? Dazu gehöre ich doch auch.« Papst Franziskus nahm den Rücktritt nicht an. Er antwortete etwas, das sofort an den Fall Weißenfels und die Freisprüche für die beiden Priester erinnert: »… lieber Bruder. Mach weiter.«
Der Leiter der MHG-Studie, Harald Dreßing, hat gesagt, dass die Zahlen seiner Untersuchung zu niedrig seien, nur die Spitze eines Eisbergs. Der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert legte 2019 eine Hochrechnung für Deutschland vor: Es gebe ein riesiges Dunkelfeld, 8- bis 80-mal mehr Betroffene als in der MHG-Studie ermittelt. Es wurde ein Recherche Team gegründet, um durch das Bistum Trier zu reisen und dort exemplarisch nach Opfern zu suchen, mit Pfarrern und Behörden zu sprechen und Zeugen zu finden, die noch nie öffentlich gesprochen haben. Und nach dem System zu suchen. Die Orte heißen Kirn, Idar-Oberstein oder Burbach. Gerolstein, Oberwesel oder Freisen. Knapp 1,3 Millionen Katholiken leben im Bistum Trier. In fast jedem Dorf ein Kirchturm.
Man findet die Taten und Tatvorwürfe aus den vergangenen Jahrzehnten in Urteilen, durch Hinweise von Opfern, in Gutachten, Protokollen, Untersuchungsberichten, Zeitungsausschnitten. In einem der Dörfer drückte ein Priester einem Mädchen beim Orgelspiel seinen erigierten Penis in den Rücken, in einem anderen lebt ein Geistlicher, der in einer Grundschule Religion unterrichtete. Er soll eine Zehnjährige an einen Stuhl gefesselt und missbraucht haben. Danach soll er sich mit offener Hose hingekniet und zur Jungfrau Maria gebetet haben. In einer Gemeinde lebte ein Junge, als erwachsener Mann berichtet er, wie ihn der Pfarrer mit Weidenzweigen gepeitscht und vergewaltigt habe, mit der Begründung, Jesus habe auch leiden müssen. In einer anderen hat ein Priester im Schwimmbad unter der Dusche einen Jungen intim berührt und die Hand des Jungen zu seinem Genital geführt.
In einem Dorf begann ein Priester des Bistums ein Verhältnis mit einem Geflüchteten, dieser zeigte ihn 2016 an. Noch vor seiner Vernehmung nahm sich der Syrer das Leben, indem er vor ein Auto rannte.
Einen anderen Pfarrer meldete ein 14-Jähriger bei der Polizei. Er habe ihm am Mainzer Hauptbahnhof 50 Euro für sexuelle Leistungen angeboten.
In einem Städtchen soll ein Betreuer in einem katholischen Internat zu einem Jungen gesagt haben, er wolle mal nachschauen, ob er schon geschlechtsreif sei.
Ein paar Kilometer weiter lebt ein Priester, eine Frau sagte aus, was sie mit ihm als Mädchen erfahren habe: »Er weist mich an, ihn am Bauch zu küssen, und hält meine Hand fest und masturbiert mit meiner Hand. Er sagt, er sei ein erfahrener Mann und dass es für mich bestimmt schön wäre, von ihm entjungfert zu werden.« Der Mann sagte später, er könne sich daran nicht erinnern.
In einer Pfarrei zauberte ein Priester bei einer Show vor Schülern Tangas aus einem Hut, in einer anderen arbeitete ein Geistlicher, der seinem Neffen zwischen die Beine griff und sagte: »Da ist doch nichts Schlimmes, wenn man seinem Onkel einen Gefallen tut«, in einer dritten verbrannte ein Priester, als die Polizei vorfuhr, gerade Fotos nackter Messdiener hinterm Haus.
In einer Gemeinde erzählt ein ehemaliger Bergmann: »Ich wollte eigentlich Priester werden, zu Hause habe ich Messen nachgespielt. Ich war ein lieber Bub, etwa zehn Jahre alt. Der Pfarrer drang in mich ein, das geschah in den folgenden Jahren häufiger. Danach sagte er, das sei unser Geheimnis, wenn ich es doch jemand sagen würde, käme ich in die Hölle. Dann gab er mir für meinen Vater Zigaretten mit.«
In einem Städtchen sagt ein Mann, der einst Messdiener war, dass der Priester ihn zu sich gerufen habe. Er habe sein Gewand geöffnet und gesagt: Komm beichten. Der Junge trat an ihn heran, und der Mann schloss den Stoff über ihm. An der Tür hängt ein Schild: »Fotografier Verbot und Verschwiegenheit«.
Timo Ranzenberger lebt hier, hinter Kaiserslautern, hinter München, weit entfernt vom Bistum Trier, in einem Ort in Oberbayern. Das kleine Haus mit dunklem Holzdach ist eine Einrichtung für Suchtkranke, mit Alkoholkontrollen, Urintests und Arbeitstherapie. Timo Ranzenberger ist 38 Jahre alt, seit acht Jahren freiwillig hier, seine sanfte Stimme würde niemals darauf schließen lassen, dass er 40 bis 50 Filterlose am Tag raucht.
Er sitzt an diesem Tag im Garten hinter dem Haus und sagt, er führe ein Glasscherbenleben. Vor ihm liegt ein Aktenordner, darin seine Geschichte, die ihn mit dem Bistum Trier verknüpft. Sie handelt davon, wie aus einem möglichen Verbrechen mutmaßlich mehrere werden konnten: durch Wegschauen. Ranzenbergers Mutter war Alkoholikerin, sein Vater heroinabhängig. Der Sozialdienst katholischer Frauen erhielt nach dem Tod seiner Großmutter die gesetzliche Vormundschaft, er kam zu einer streng katholischen Pflegefamilie in einer Gemeinde des Bistums Trier später in eine Wohngemeinschaft.
Mit 11 wurde er Messdiener. Ende der Neunzigerjahre, Ranzenberger war 15 Jahre alt, begegnete er dem Pfarrer der Gemeinde auf der Straße. Der habe ihn gefragt, ob er nicht Lust habe, ein Wochenende bei ihm im Pfarrhaus zu verbringen. Es sei ihm wie das Paradies erschienen, sagt Ranzenberger: Sechs oder sieben Jungs hätten draußen am Gartentisch gesessen und so viel Bier getrunken, wie sie konnten, besorgt hatte es der Pfarrer selbst. Irgendwann, sagt Ranzenberger, sei er so betrunken gewesen, dass er nicht mehr allein laufen konnte. Der Pfarrer habe ihn ins Gästezimmer des Pfarrhauses gebracht. Dann habe er sich neben ihn gelegt und ihn gestreichelt. Es habe später andere Vorfälle gegeben, einmal habe er ihm auch an den Penis gefasst. Irgendwann stürzte Ranzenberger ab. Hauptschulabschluss, Gärtnerlehre, Vollrausch.
2005 begann er einen Entzug. Er bekam das Medikament Antabus, wer nach der Einnahme Alkohol trinkt, muss sich innerhalb von Minuten übergeben. An einem Sonntagmorgen, endlich nüchtern, schaltete er den Fernseher ein. Das ZDF übertrug einen Gottesdienst. Als er die Musik hörte, sei irgendwas in ihm passiert, sagt Ranzenberger. Er habe an damals denken müssen. Etwa ein Jahr später rang er sich durch, er rief bei der Pressestelle des Landeskriminalamts des Saarlands an und meldete, was damals geschehen war.
Ein Kommissar rief ihn an, und Ranzenberger machte eine schriftliche Aussage. Der Pfarrer wurde mündlich vernommen und sagte im September 2006 gegenüber dem Kommissar aus: »Es ist richtig, dass Timo bei mir im Pfarrhaus an Wochenenden übernachtet hat.« »Ich habe noch das Bild vor Augen, dass Timo bei mir auf dem Schoß sitzt und ich ihn unter dem T-Shirt streichele.«
»Ich wusste aber damals schon, dass es zumindest eine moralische Verfehlung war.« »Er tat mir leid, und deswegen sagte ich mir, sei du ihm wenigstens gut.« Die Aussagen des Pfarrers kamen einem Teilgeständnis gleich, die Staatsanwaltschaft sah einen hinreichenden Tatverdacht. Doch für die infrage kommenden Straftaten gab es damals eine Verjährungsfrist von fünf Jahren.
Der Vorwurf an den Pfarrer war nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt von Ranzenbergers Anzeige bereits verjährt, die Ermittlungen wurden eingestellt. Die Staatsanwaltschaft informierte das Bistum Trier darüber, aber auch über den Tatvorwurf. Das Bistum befragte den Priester selbst. Dort soll er die Tat geleugnet haben.
Einige Zeit nach der Vernehmung, im Herbst 2006, fand ein Jugendfußballturnier in der Gegend statt. An dem Turnier soll eine Mannschaft aus der Gemeinde des Pfarrers teilgenommen haben, er soll sie betreut haben. Auch der Kommissar, der den Pfarrer vernommen hatte, soll dort gewesen sein. Er soll den Pfarrer zusammen mit den Jugendlichen gesehen haben. Angeblich ließ es ihm keine Ruhe.
Er soll beim Bistum Trier angerufen und den Generalvikar Georg Holkenbrink, den Stellvertreter des Bischofs, erreicht haben. Er wisse nicht, ob das Bistum informiert worden sei, soll der Kommissar gesagt haben, das Verfahren sei ja eingestellt worden, er müsse allerdings etwas loswerden. Er soll dem Generalvikar von dem Fußballturnier und dem Teilgeständnis berichtet haben und zu Holkenbrink in etwa Folgendes gesagt haben: »Es kann nicht sein, dass dieser Mann Jugendmannschaften betreuen darf.«
Es habe nicht lange gedauert, und der Kommissar soll von seinem Vorgesetzten angesprochen worden sein.
Das Bistum soll den Anruf gemeldet und sich beschwert haben. Am 6. Dezember 2006, nach dem mutmaßlichen Anruf, fand eine Sitzung der Personalkommission des Bistums statt. Anwesend: Generalvikar
Holkenbrink, der damalige Bischof Reinhard Marx und der Personalchef. Dort wurde über die Zukunft des Pfarrers entschieden, der Ranzenberger missbraucht haben soll. Es wurde beschlossen, dass keine kirchenrechtlichen Voruntersuchungen gegen den Pfarrer eingeleitet werden, die beispielsweise zu einer Kontaktbeschränkung zu Jugendlichen hätten führen können. Der Pfarrer blieb auf seiner Stelle. Als wäre nichts gewesen.
In den folgenden Jahren wurde dieser Pfarrer noch mindestens sechsmal Angezeigt, bis auf eines wurden alle Verfahren eingestellt. Ein ehemaliger Messdiener sagt, im Jahr 2007, ein Jahr nach dem Anruf des Kommissars beim Bistum, habe der Pfarrer ihn eingeladen, mit ihm übers Wochenende wegzufahren.
Die Reise sei eine Belohnung für seine Dienste als Messdiener gewesen. Im Schwarzwald sei der Pfarrer dann in sein Zimmer gekommen und habe ihm in die Schlafanzughose gegriffen. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt.
2015 wurde der Pfarrer beurlaubt, offiziell hieß es, weil er sich nicht an Absprachen gehalten habe. Kurz danach ging er in den Ruhestand. Erst im Mai 2016 begann ein kirchenrechtliches Vorermittlungsverfahren gegen ihn, unter anderem wegen des Falls Ranzenberger. Fast zehn Jahre waren seit dem mutmaßlichen Anruf des Kommissars vergangen.
Die Verantwortlichen wurden mit den Vorwürfen konfrontiert.  Weder das Bistum Trier noch Marx als damals zuständiger Bischof wollen sich äußern. Sie dementieren nichts, beantworten nichts, sie verweisen auf das laufende Verfahren und schicken eine Stellungnahme vom April 2021, in der steht, dass »im Verlauf der Bearbeitung dieses Falles Fehler passiert« seien, und räumen ein, dass 2006 versäumt worden sei, »Aufklärung zu betreiben«. Die damals und heute Verantwortlichen hätten dies mehrfach öffentlich eingeräumt und ausdrücklich bedauert. Man arbeite eng mit der zuständigen Staatsanwaltschaft zusammen und habe alle Akten übermittelt. Zu den neuen Erkenntnissen, zum Anruf des Kommissars, zu dem Vorwurf, dass sie genau gewusst haben könnten, dass der Pfarrer eine Gefahr darstelle, sagen sie nichts. Der Pfarrer lässt über seinen Anwalt mitteilen, er wolle aufgrund des laufenden Verfahrens keine Stellungnahme abgeben.
Timo Ranzenberger hat Bischof Marx im Frühjahr 2021 einen Brief geschrieben, er hat ihn auch auf Facebook
veröffentlicht: »Das, was Sie getan haben mit Ihren Entscheidungen, ist alles andere als christlich. Genau
solche Menschen wie Sie lassen mich an das Böse glauben.« Er erhielt eine Eingangsbestätigung des Erzbistums München, datiert zwei Tage bevor Marx dem Papst seinen Rücktritt anbot. Eine Antwort von Marx erhielt er nicht.
Mächtig erhebt sich der Trierer Dom, die umliegenden Gebäude knien vor ihm. Die älteste Bischofskirche
Deutschlands stand schon, als die Römer das Land der Gegend bewirtschaften ließen. Beim Bau habe der Teufel geholfen, heißt es laut einer Legende. Der Architekt habe ihn reingelegt, indem er behauptete, dass sie das größte Wirtshaus der Welt bauen würden. Der Teufel habe daraufhin Steine aus dem Odenwald nach Trier gebracht, erst als er die letzte Diorit Säule in den Armen gehalten habe, habe er begriffen, dass hier eine Kirche errichtet wird. Er habe die Säule auf die Mauern des Doms geschmettert. Bis heute liegt ein 65 Tonnen schwerer Stein am Haupteingang, der Domstein zu Trier. Kinder rutschen an ihm runter, man sagt, das bringe Glück.
Als sich 2010 die Missbrauchsskandale häuften, herrschte in Deutschland erst einmal ein großes Durcheinander. Es wurden Fürbitten gehalten für die Opfer, Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger warf der Kirche mangelnde Konsequenz bei der Aufklärung vor. Kardinal Lehmann wies Vertuschungsvorwürfe als Verleumdung zurück.
Missbrauchsbeauftragte wurden ernannt, Schutzkonzepte für Gemeinden in Auftrag gegeben, die Personalaktenordnung geändert, neue Richtlinien für Zahlungen an Opfer erlassen, Betroffenenbeiräte eingerichtet.
Die Bischofskonferenz verabschiedete eine »Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- oder hilfebedürftiger Erwachsener durch Kleriker und sonstige Beschäftigte
im kirchlichen Dienst«. Papst Franziskus verschärfte das Kirchenrecht, Vertuschung durch die Bischöfe machte er zur Straftat. Der Synodale Weg, also eine breit angelegte Debatte über Konsequenzen und Reformen, startete.
An einem Sonntag im September steht Bischof Stephan Ackermann vorn im Trierer Dom. Der Apostolische Nuntius Erzbischof Dr. Nikola Eterović, der Botschafter des Papstes in Deutschland, hält die Messe zu Ehren
des Heiligen Hieronymus. Frauen mit abgegriffenem Gesangbuch, Kinder in gestärkten Jeans, gewichtige Männer mit sonorer Stimme. Der Weihrauch ist längst ins Gewölbe gezogen, als gebetet wird:
»Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe: Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken: durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld.«
Das Schuldbekenntnis ist ein wichtiger Moment in der Messe und generell im Glauben der Kirche. Man wird aus Sicht der Katholiken bereits schuldig geboren und muss durch eine Taufe von der Erbsünde befreit werden. Man kann sich später im Leben von der eigenen Schuld durch Reue und die Beichte reinwaschen
lassen. Gläubige Katholiken sind geübt darin, ihre Schuld einzugestehen. Kardinal Marx sagte bei der Vorstellung der MHG-Studie: »Wer schuldig ist, muss bestraft werden.«
Er schrieb an den Papst: »Das Übersehen und Missachten der Opfer ist sicher unsere größte Schuld in der Vergangenheit gewesen.«
Bischof Ackermann sagte: »Es haben Menschen in der Kirche Schuld auf sich geladen.« Papst Franziskus sagte, die Kirche müsse lernen, sich die Schuld zu geben. Schuldbekenntnisse, so allgemein und so oft wiederholt wie ein Gebet.
Nach der Beichte und dem Beteuern von Reue und Besserung folgt im Glauben der katholischen Kirche die Vergebung. Doch in den Schuldbekenntnissen der Bischöfe und des Papstes fehlt etwas: Schuld woran ganz
genau? Und wer ist eigentlich schuldig? Und hat das alles überhaupt je aufgehört? Man kann durch das Bistum fahren, im Hochsommer, wenn die Windräder auf den Hügeln in der Hitze stillstehen, im Herbst, wenn Traktoren manche Straßen verstopfen, und nach denen suchen, die ihrer Kirche nicht vergeben können.
Einer hat ein Geschäft, einer ist Journalist, einer Arzt. Manche sind fordernd wie Karin Weißenfels, andere zurückhaltend wie Timo Ranzenberger.  Ein Rentner sagt, er stand vor zwei Tagen auf dem Balkon, Flasche Schnaps in Reichweite, und dachte: Heute spring ich. Einer sitzt abends in seinem Laden und sagt, er habe
seinen Glauben verloren. Einer sagt am Telefon, er habe versucht, durch exzessiven Sport zu vergessen, ein anderer berichtet, er könne Berührungen meist nicht ertragen. Einer wurde selbst zum Täter. Er missbrauchte die Söhne seiner Lebensgefährtin und saß im Gefängnis. Ein Mann schreibt eine SMS: »Ich befinde mich momentan in einer Psychiatrie, weil ich mich erlösen wollte.«
Viele sind gut vorbereitet, sie haben Dokumente vor sich liegen oder Dateien erstellt, und wenn etwas fehlt, liefern sie es schnell nach. Sie sind wie Pistolen, seit Ewigkeiten geladen. Es gibt Pfarrer, die das Bistum im Amt ließ, obwohl es informiert worden war, dass sie eine Gefahr darstellen. In einem Fall meldete sich das erste Opfer im Jahr 1989 beim Bistum Trier, aber erst 21 Jahre nachdem man dort von den Vorwürfen gegen den Pfarrer erfahren hatte, versetzte man ihn in den Ruhestand.
Das Bistum sagt auf Anfrage, dass für die heute Verantwortlichen nicht mehr nachvollziehbar sei, warum der Pfarrer trotz des Eingeständnisses eines sexuellen Übergriffs damals nicht in den Ruhestand versetzt wurde. Dieses Vorgehen sei aus heutiger Sicht scharf zu verurteilen. Es gebe inzwischen ein dauerhaftes Verbot der öffentlichen Ausübung des priesterlichen Diensts. Auf eine Nachfrage, warum er nicht später in der Amtszeit von Marx in den Ruhestand versetzt wurde, ob das erste Opfer etwa »vergessen« wurde, antwortet das Bistum Trier nicht, und Marx’ Sprecher schreibt, dass dieser zu diesem »möglichen Fall« nichts sagen könne.
Inzwischen weiß das Bistum Trier von sechs weiteren Betroffenen.
Einige Täter wurden in dem Krankenhaus oder Altenseelsorge eingesetzt, wo sie Letzte Ölungen vornahmen und Messen hielten. Ein Priester im Ruhestand, der zugegeben hat, einem 15-Jährigen Geld für Sex angeboten zu haben, darf wieder Gottesdienste halten.
Das Bistum Trier schreibt an den SPIEGEL, es konnte »kein strafrechtlich relevantes Vergehen im Sinne der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger
nachgewiesen werden«.
Ein Priester wurde nach seiner Verurteilung in Saarbrücken wegen dutzendfachen Missbrauchs von acht Opfern 1994 in die Ukraine versetzt. Man holte ihn 1998 zurück ins Bistum. Offiziell ging er 1999 in Ruhestand, aber Ackermann beließ ihn als Hausgeistlichen eines Krankenhauses und eines Altenheims bis 2012. Das Bistum schreibt, dass die damals Verantwortlichen diesen Einsatz fern von Kindern und Jugendlichen für vertretbar gehalten hätten, es allerdings versäumt worden sei, die für ihn zuständigen Stellen angemessen über seine Vorgeschichte zu informieren. Auf eine Rückfrage, ob in einem Krankenhaus ein Einsatz fern von Kindern tatsächlich gewährleistet sei, antwortet das Bistum nicht.
2012 zeigte sich der Priester selbst an: Er habe in seiner Zeit in der Ukraine zwei weitere Jungen missbraucht.
Einem Pfarrer, der mit jugendlichen Messdienern in Urlaub fuhr, wurde dies vom Bistum 2014 untersagt. Dennoch wurde er 2016 öffentlich verteidigt: Diese Praxis sei »als Teil der Jugendarbeit in hohem Ansehen«, es habe »keine Beschwerden oder Missbrauchsvorwürfe gegeben«. Das ist erstaunlich, es ist derselbe Pfarrer, den Timo Ranzenberger zehn Jahre zuvor angezeigt hatte.
Der damalige Generalvikar Georg Bätzing schrieb diesem Priester bereits ein Jahr zuvor, 2015, dass er unter anderem aufgrund von Vorwürfen der Grenzverletzung gegenüber Kindern beurlaubt werde: »Sehr geehrter
Herr Pfarrer …, ich bedauere es sehr, dass der Konflikt nunmehr eine solche Eskalation gefunden hat. Mir ist auch bewusst, dass dieser Konflikt insgesamt nicht allein von Ihnen zu verantworten ist.« Bätzing schreibt,
er erbitte Gottes Segen für seinen weiteren priesterlichen Dienst.
Ein Priester, über den Zeugen ausgesagt haben sollen, er habe Kinder gebeten, die Hosen runterzulassen, wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, warum genau, teilt das Bistum nicht mit. Später arbeitete er ohne Auflagen, ein forensisches Gutachten, dem er sich freiwillig unterzogen hatte, habe ergeben, dass es
sicher sei, ihn einzusetzen, der Fall sei »strafrechtlich geahndet und therapeutisch aufgearbeitet
«, sagte das Bistum Anfang 2019.
Kaum ein Jahr später fiel erneut eine mangelnde Distanz zu Kindern auf. Man fand im Herbst 2020 ein Pinterest-Profil, dort sammelte er unter anderem Fotos von Jungen, die sich nur mit kurzen Lederhosen bekleidet vornüberbeugen oder auf Betten rekeln. Er habe sich danach in eine Auszeit und in Therapie
begeben, sagt das Bistum. All diese Vorkommnisse fielen in die Amtszeiten von Marx oder Ackermann, der Fall
Ranzenberger bringt einen dritten Bischof ins Spiel: Der damalige Generalvikar Bätzing ist inzwischen Bischof von Limburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, dem höchsten Gremium in der katholischen
Kirche in Deutschland.
Die Bischöfe sagen oft, ihre Fehler seien ohne Absicht geschehen, es seien Pannen. Die Spuren, die man im Bistum findet, legen anderes nahe. Sie wirken zwar manchmal klein und flüchtig, wie die Brotkrumen Straße aus dem Märchen. Aber sie führen direkt zur Trierer Bischofsresidenz.
Vier Autostunden von Trier entfernt, in Münster, leitet Thomas Schüller das Institut für Kanonisches Recht. Es liegt direkt am Domplatz von Münster. Schüller ist einer der renommiertesten Kirchenrechtsexperten Deutschlands. Er spricht an diesem Tag von »struktureller Sünde« und einem »Verrat am Evangelium«. Er skizziert ein System, in dem die Bischöfe vor allem eines schützen wollen: ihr eigenes Amt. Deshalb hielten sie zusammen, denn ihre Angst sei: Wenn einer gehen müsse, reiße er den nächsten mit. »Wenn Marx fällt, fallen wahrscheinlich Ackermann und auch Bätzing.« Es ist die Angst vor einem Dominoeffekt. Schüller sagt: »Das Bistum Trier ist eines der schlimmsten Beispiele mangelhafter Aufarbeitung, dort sind schwerwiegende Fehler
passiert. Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, wird es schwer sein für die betroffenen Bischöfe, sich zu halten.«
Wenn man ihn fragt, warum Marx seinen Rücktritt angeboten habe, wenn es ihm doch um Machterhalt gehe, sagt Schüller: »Er weiß, dass er am Ende ohnehin gehen muss.« Als damals verantwortlicher Bischof habe Marx sich im Fall Ranzenberger eines Dienstpflichtvergehens schuldig gemacht, er habe es 2006 unterlassen, die Vorwürfe aufzuklären. Dann hätte man auch weitere Opfer verhindern können. Im Fall Weißenfels spricht er von einem »moralisch verwerflichen Verhalten«.
Man habe die beiden Priester behandelt, als wären ihre Taten ein Kavaliersdelikt. Frau Weißenfels hingegen habe man im Regen stehen lassen.
Schüller zeichnet ein düsteres Bild seiner Kirche mit nur einigen wenigen positiven Ausnahmen. Von der Aufarbeitung in Trier erwartet er sich wenig. Er fordert eine völlig unabhängige staatliche Aufarbeitungskommission wie in Frankreich oder Australien mit den Rechten einer Staatsanwaltschaft.
Ein Priester, der mit seiner Kirche gebrochen hat, sagt zum Thema Aufklärung: »Man bittet doch auch nicht die Mafia, ihre eigenen Verbrechen zu untersuchen.«
Es gibt nur wenige Whistleblower innerhalb der Kirche. Eine ehemalige Pfarrsekretärin berichtet am Telefon, das Vertuschen sei schrecklich. Sie fleht: »Bitte nennen Sie nicht meinen Namen. « Eine Person aus dem
kirchlichen Umfeld fragt: »Wenn die mir an den Kragen wollen, helfen Sie mir dann?«
Ein Pfarrer, der einen Missbrauchstäter angezeigt hat, fand einen Müllsack mit Tierkadavern vor seiner Haustür, und im Weihwasser seiner Kirche lagen tote Fledermäuse. Im Herbst wird eine der Autorinnen dieses
Textes nachts angerufen, eine Roboterstimme meldet sich. Die Stimme sagt: »Die Jugendlichen und ihre psychischen Schäden wären dir vollkommen egal. Du würdest dich auf ihre Kosten wichtig und bereichern. Sie könnten dir inzwischen viele Übergriffe in der Recherche und viele fachliche Fehler in der journalistischen Arbeit nachweisen. Dies ist eine Anregung.«
Um zu verhindern, dass nach den Schuldbekenntnissen wirklich aufgeklärt wird, scheint die Kirche nach der 3Z-Regel zu arbeiten: Zugang, Zuständigkeit und das Spielen auf Zeit.
Das Problem des Zugangs lässt sich an der MHG-Studie erkennen: Die Kirche hat ihre eigenen Archive. Die Macher der Studie hatten keinen Zugriff darauf. Stattdessen wurden die Personalakten der betroffenen Kleriker von Kirchenmitarbeitern nach Hinweisen auf Missbrauch durchgesehen, ihre Funde gaben sie an die Verfasser weiter.
Zuständigkeit hat damit zu tun, dass die Kirche sich zwar an weltliches Recht halten Zuständigkeit hat damit zu tun, dass die Kirche sich zwar an weltliches Recht halten muss, aber auch eigene Gesetze hat, die Bestimmen, wie sie mit Taten von Geistlichen umgeht. Sie sind gesammelt im Codex Iuris Canonici, einem in lateinisch-deutscher Fassung viele Hundert Seiten dicken Buch. Es wurde immer wieder aktualisiert und fußt
unter anderem auf den Zehn Geboten. Verstöße gegen den Codex werden in kirchenrechtlichen Verfahren von der Kirche selbst überprüft. Sie ist dort nicht nur Chefermittler, sondern auch ihr eigener Richter.
Alle Formen sexuellen Missbrauchs werden im Kirchenrecht als Verstoß gegen das sechste Gebot gewertet – »Du sollst nicht ehebrechen«. Sexualstraftaten durch Geistliche galten bislang lediglich als Verstoß gegen den Zölibat. In diesem Sommer hat der Papst neue Strafbestimmungen erlassen, die jetzt in Kraft traten, eine Verschärfung des Kirchenrechts. Die Bestimmungen werten sexuellen Missbrauch von Minderjährigen erstmals als »Straftat gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen«. Sollte vom Kirchengericht eine Schuld festgestellt werden, konnten die Bischöfe bislang darüber bestimmen, ob sie den Geistlichen ihres Bistums tatsächlich bestrafen oder nicht. Jetzt müssen sie es. Doch am Ende entscheidet trotz allem noch immer der Papst. Im März 2021 machte das Erzbistum Köln Schlagzeilen. Dort waren Gutachten zum sexuellen Missbrauch in Auftrag gegeben worden. Die Veröffentlichung eines ersten Gutachtens war von Kardinal Rainer Maria Woelki verhindert worden. In einem zweiten wurden dann mehrere Pflichtverletzungen festgestellt, darunter 24 bei dem verstorbenen Erzbischof Joachim Meisner. Er hatte Unterlagen über Missbrauchstäter in einem geheimen Ordner aufbewahrt. Der Titel: »Brüder im Nebel«.
Elf Pflichtverletzungen ließen sich bei dem ehemaligen Personalchef Stefan Heße nachweisen. Das Gutachten
wurde nach Rom weitergeleitet, Heße, heute Erzbischof von Hamburg, bot seinen Rücktritt an. Im September
2021 verkündete Papst Franziskus seine Entscheidung. Er nahm das Rücktrittsgesuch von Heße nicht an, wie
schon im Frühsommer bei Marx.
Die Zeit, das dritte Z, ist das mächtigste Instrument der Kirche. Kirchengerichte brauchen oft Jahre bis zum Urteil. Seit Anfang 2018 läuft ein kirchenrechtliches Strafverfahren gegen den Pfarrer, der unter anderem Timo Ranzenberger missbraucht haben soll. Fast vier Jahre später heißt es, man befinde sich noch immer in der Beweisaufnahme.
Nach einer Voruntersuchung wird in Rom weiter beraten und entschieden. Ein Missbrauchsverfahren liegt
dort seit 2012. Man habe zuletzt im November 2019 davon gehört, teilt das Bistum Trier auf Anfrage mit. Bis
heute gebe es keine Entscheidung. Bereits 2018 verpflichteten sich die Bischöfe zu einer Aufarbeitung, die
die Schuld der Kirche untersuchen soll. Im April 2020 verständigte sich die Kirche zusammen mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs auf verbindliche Kriterien und Standards. In den Bistümern sollen Unabhängige Aufarbeitungskommissionen
gegründet werden.
Organisiert wird die Gründung der Kommissionen von der Kirche, in Deutschland sichert das Grundgesetz
den Religionsgemeinschaften zu, dass sie ihre Angelegenheiten selbst regeln dürfen. Bis Anfang November
haben Kommissionen in gerade mal der Hälfte der 27 Bistümer ihre Arbeit aufgenommen. Im Juni 2021 begann die Kommission in Trier mit ihrer Arbeit. Sie soll jährliche Zwischenberichte vorlegen, hat aber insgesamt sechs Jahre Zeit.
Unterdessen sterben die Täter. Karin Weißenfels hatte im Mai bei einem der ersten Treffen gesagt, sie
wünsche sich, dass die Aufarbeitungskommission den Priester, der sie jahrelang sexuell belästigt und zur Abtreibung gedrängt haben soll, befragt, damit er dies bestätigen kann. Er ist über 80 Jahre alt. Als der SPIEGEL den Pfarrer im August kontaktiert und ihn auffordert, sich zu dem Vorwurf zu äußern, sagt er am Telefon, dass er sich das vorstellen könne. Allerdings müsse er zuerst das Bistum um Erlaubnis bitten.
Wenig später schickt der Pfarrer einen Brief: Er sei mit dem Generalvikar Ulrich Graf von Plettenberg
übereingekommen, dass er nicht sprechen könne, bevor die Arbeit der Kommission abgeschlossen sei.
Bald darauf stirbt er.
Man ist bei den Tätern im Bistum Trier nicht so willkommen wie bei den Opfern. Man kann aber unangemeldet hinfahren und klingeln. Es öffnen Männer, manche jünger, viele schon im Rentenalter, die sich meist sofort wieder umdrehen und die Tür zuschlagen.
Nur wenige der Priester haben bislang öffentlich gesprochen. Man kann man mit unerschütterlichem Zusammenhalt beschreiben kann. In seinem Weihejahrgang, unter seinen Kollegen, wüssten alle Bescheid, es werde toleriert, wenn man sich viele Jahre kenne. Er selbst kenne andere Täter persönlich.
Nach einer Therapie wurde er in Altenheimen und Krankenhäusern eingesetzt, danach hielt er in einer
Pfarrei wieder Messen, bis 2012. Auf die Frage, ob er noch mal zum Täter wurde, sagt er Nein. Aber er sagt, Vorsicht sei immer geboten. Es sei eine Sucht, wie beim Alkohol. Oder, wie wenn man mal ein Eis esse, obwohl
man doch wisse, man habe Zucker. Maare sind Trichter, entstanden durch heftige Explosionen unter der
Erde. Manche füllten sich mit Wasser und werden heute als Badeseen genutzt. Sie reichen bis tief ins Gestein.
Martina Oehms ist 60 Jahre alt, Biologin und zuständig für die Seenüberwachung in Rheinland-Pfalz, sie sitzt zwischen Pflanzen in der Küche ihrer Wohnung in Mainz. Neben dem Tisch, in die Ritze zwischen Holzrahmen
und Pinnwand geklemmt: ein Bild. Ein Kommunionkind mit einem Kranz aus weißen Rosen auf dem Haar. Sie sagt, sie erkenne sich selbst nicht darauf, sie hat es dort aufgehängt, damit ihr wieder einfällt, wer dieses Mädchen war.
Das Dorf, aus dem sie stammt, liegt in der Eifel, nicht weit entfernt von den Maaren, mit denen sich Martina
Oehms heute beschäftigt. Ein paar Hundert Einwohner, links und rechts Felder. Sonntags ging sie als Kind im Nachbarort in die Frühmesse, mittags ins Hochamt und abends zur Abendandacht. Der Priester der Pfarrei war auch ihr Religionslehrer.
Es begann in der ersten Klasse, 1967, Martina Oehms war sechs Jahre alt. Was passierte, schildert sie so: »Wenn es zur Pause geschellt hatte, stellte er sich an die Tür, aus der wir rausmussten, und griff sich wahllos
eines der Kinder. Zum Beispiel mich. Er setzte sich und klemmte mich wie in einen Schraubstock zwischen
seinen Beinen ein und fasste mich überall an. Es hörte auf, wenn die anderen Kinder zurückkamen. Ich
erinnere mich noch genau an das Entsetzen in der Klasse vor der Pause, die Ohnmacht. Und die Angst, dass
man dran sein könnte, zeitgleich die Scham, dass man hoffte, dass es einen anderen trifft. Ich glaube, er hat sich an unserer Angst geweidet.«
In dieser Zeit, sagt Oehms, habe sie oft überlegt: Wie werfe ich mich so vor einen Traktor, dass ich sicher tot bin? Eine Lehrerin soll den Priester Ende der Sechzigerjahre an das Bistum Trier gemeldet haben. Später erfuhr Martina Oehms, dass man den Priester nach einer Weile einfach in eine andere Gemeinde versetzt haben soll.
Das Bistum Trier schreibt an den SPIEGEL: »Aus heutiger Sicht ist der damalige Umgang mit den Vorwürfen
ohne Zweifel unangemessen und falsch.« Umso wichtiger sei aus Sicht des Bistums die unabhängige Aufarbeitung. Man habe bereits zwei Opfer entschädigt und mögliche weitere Opfer ermutigt, sich zu melden.
Was Martina Oehms später auch erfuhr: dass manche im Dorf offenbar Bescheid gewusst und nichts unternommen hatten, auch ihre eigenen Eltern. Sie sagt: »Damals war der Priester wie Gott selbst, und als
Kind war man nur ein Ding.« Und: »Ein ganzes Dorf. Alle, fast alle, schweigen.«
Viele Opfer berichten, dass die Täter mächtige Unterstützer hatten: Oft sind es die Gläubigen selbst, für
die die Priester den Zugang zum Himmel bedeuten.
Ein Opfer erzählt, es habe noch als Teenager seinen Eltern von den Übergriffen berichtet. Sie hätten nichts
unternommen. Ein Mann sagt, er habe seinen Peiniger bei der Polizei angezeigt, der Täter wurde später
verurteilt. Im Dorf hieß es allerdings, das Opfer sei ein Lügner und Wichtigtuer, ein »schwuler Hund«. Es wurde so schlimm, dass die Familie umziehen musste.
Nicht nur Gläubige halfen der Kirche, die Übergriffe der Priester zu verbergen. Sie konnte sich lange auch
darauf verlassen, dass es den Opfern schwerfällt, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Einem wurden die Taten Jahrzehnte später nach einer Hypnose zur Raucherentwöhnung wieder präsent.
Ein Opfer sagte am Telefon: »Bitte rufen Sie nicht mehr an. Meine Frau weiß nichts, meine Kinder auch
nicht.« Sprechen könne er über das, was geschehen sei, ohnehin nicht, sonst gehe er jetzt auf der Stelle zu
Boden.
Manche schwiegen aus Scham oder weil ihnen der Priester drohte. Andere verdrängten oder befürchteten
eine Retraumatisierung. Oft sind die Vorwürfe verjährt, wenn die Opfer sich melden.
Der Missbrauch in der katholischen Kirche ist, wenn man so will, das perfekte Verbrechen. Auf der einen Seite steht die Kirche mit ihrer Wortgewalt, ihren Sonderrechten und ihrer Übung, sich zu präsentieren und zu äußern.
Auf der anderen Seite stehen die Opfer, ie oft Kinder waren. D ie Suche nach der Wahrheit ist schwer. Zeugen, die sagten, sie hätten brisante Informationen, leugnen dies später und raten zum Abbruch der Recherche. Opfer, die noch darauf warten, ob ihnen die Kirche Geld zusprechen wird, reden lieber nicht. Einem Zeugen schreiben wir immer wieder, stecken Zettel in seinen Briefkasten. Schließlich spricht er, nachdem wir Stunden
vor seinem Haus auf ihn gewartet haben. Doch am schwierigsten ist der Kontakt zur Kirche selbst.
Auf Anfragen erhält man oft Hinweise auf die datenschutzrechtlichen Vorschriften und Persönlichkeitsrechte.
Bei einem Priester, der Gerüchten nach vor ein paar Jahren eine Kamera im Bad des Pfarrhauses installiert haben soll, um einen Praktikanten zu filmen, heißt es vonseiten des Bistums, hier würden nicht die Missbrauchsleitlinien greifen, sondern das Disziplinarrecht. Daher sei man nicht verpflichtet, Auskunft
zu geben.
Die Aufarbeitungskommission weigert sich im November bekannt zu geben, wie der Stand ist. Nicht einmal die Zahl ihrer bisherigen Treffen will sie nennen. Am verschwiegensten ist ein Kloster in Hessen. Dort wurden Missbrauchstäter des Bistums Trier therapiert. Wenn man das Kloster per Mail kontaktieren möchte, findet man nur die Adresse der Datenschutzbeauftragten des Ordens. Sie könne nichts sagen, antwortet sie. Ob sie einen anderen Ansprechpartner nennen könne? Leider nein: Datenschutzgründe.
Sie hilft schließlich doch. Irgendwann schreibt eine Ordensschwester, sie will aber keine genauen Angaben machen, wegen der »professionellen Schweigepflicht«.
Das Bistum Trier teilt mit, man müsse bezüglich jeder Frage eine Abwägungsentscheidung treffen zwischen dem öffentlichen Informationsinteresse einerseits und dem obliegenden Schutz der Rechte der Betroffenen
andererseits. Man sei seit mehr als einem Jahrzehnt mit der Be- und Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt befasst. Sei Aufarbeitung zunächst auf Einzelfälle bezogen gewesen, richte sich der Fokus seit 2018 auch auf die institutionelle Aufarbeitung. Es sei ein Anliegen, auch ein mögliches Fehlverhalten von Verantwortlichen zu beleuchten.
Doch die Reise durch das Bistum des Missbrauchsbeauftragten der katholischen Kirche offenbart eine Institution, die kein echtes Interesse an Aufklärung zu haben scheint, und wenn, dann nur zu ihren Bedingungen.
Manchmal fühlt es sich an, als säße man vor einem großen Gemälde, im Dunkeln, und die Kirche bediene den Lichtschalter. Ab und an macht sie für eine Sekunde das Licht an. Dann schnell wieder aus. Eine der Autorinnen dieses Textes lebt im Bistum Trier, eine andere wurde dort geboren und getauft, dann: Heilige Kommunion, Messdienerin, Firmung. Beide haben selbst nie schlechte Erfahrungen mit der katholischen
Kirche gemacht, während der Recherche fragten sie sich manchmal: Darf man so über die Kirche schreiben, wenn man schon tausendmal gebetet hat, dass man an sie glaubt? Darf man mutmaßliche Tatort-Kirchen
abbilden, in denen auch Hochzeiten und Taufen stattfanden? Macht man damit auch die vielen schlecht, die nichts getan haben?
Aber den Generalverdacht schafft die Kirche selbst. Sie schweigt schon lange auf Kosten der Opfer, aber auch auf Kosten ihrer Angestellten.  Wenn die Täter gedeckt werden, sind alle verdächtig.
Wo steckt Gott eigentlich bei all dem?
Manchmal scheint es, als würden sie ihn zu ihrem Komplizen machen. Er ist streng, wenn es passt, und er verzeiht, wenn das besser passt.
Da ist die Frau, die erzählt, dass sie in der Schule bei geringsten Vergehen von den Nonnen geschlagen wurde. Da ist die Frau, die erlebt hat, dass die Nachbarin in Schwarz heiraten musste – weil sie bei der kirchlichen
Trauung schwanger war und das Dorf die Schande sehen sollte.
Ein Chefarzt eines katholischen Krankenhauses musste gegen seine Kündigung durch die Kirche nach seiner Scheidung und erneuten Heirat klagen, die Kirche hatte dies als schwerwiegenden Loyalitätsverstoß gewertet.
1000 kleine Grausamkeiten.
Umgekehrt setzt die Kirche auf Vergebung, sobald es um die Versäumnisse ihrer Priester geht. 2010 sagte Erzbischof Meisner über einen geständigen Priester: »Ich kann ihn doch nicht in den Rhein werfen.« Barmherzigkeit müsse für alle gelten. Karin Weißenfels erhielt einmal einen Brief des Generalvikars Holkenbrink, in dem er schreibt, er sei der Überzeugung, dass »Probleme moralischer Art nicht durch rechtliche Maßnahmen gelöst werden können«. Marx schrieb ihr: »Ich hoffe sehr, dass Sie wissen, wie sehr ich Verständnis habe für das, was Sie empfinden. Ich bitte Sie aber auch herzlich darum, nach vorn zu schauen, soweit Ihnen das möglich ist.«
Ein Mann der Kirche sagt, die Täter seien doch auch nur Kinder Gottes. Und das letzte Wort über sie habe der Herr. Es ist Winter geworden. Bischof Ackermann und Kardinal Marx haben Gesprächsanfragen für diese Recherche abgelehnt. Kardinal Marx lässt zum Fall Karin Weißenfels mitteilen, im Rückblick werde ihm deutlich, um welch eine vielschichtige Problematik es sich gehandelt habe und handelt. Und: »Mittlerweile
sind wir für diese Fragen sensibilisierter.
« Es tue ihm sehr leid zu erfahren, dass Frau W. bis heute belastet ist. Bischof Ackermann sagt, es gebe kaum einen anderen Fall, bei dem er so sehr an die Grenzen des Rechts, der beteiligten Personen und seiner Möglichkeiten gestoßen sei.
Zu dem Fall Weißenfels hat sich auch der heutige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Bätzing geäußert. In einer Pressekonferenz im Februar 2021 sagte er, der Fall Karin Weißenfels sei von Ackermann zur
Chefsache gemacht worden. Weißenfels sagt, sie habe von Bischof Ackermann zuletzt vor fünf Jahren gehört. Weißenfels, die abends zu den Gesängen der Mönche von Taizé einschläft, sagt, sie habe Angst, dass man ihr in
der Öffentlichkeit nicht glauben könnte. Ihr Fall erinnert an #MeToo-Schilderungen, nur dass man im kirchlichen Kontext noch nicht so oft von Fällen wie ihrem gehört hat. Sie schickt Zahlen, per Mail: Der US-amerikanische Pastoralpsychologe Richard Sipe schätzte einst, die Zahl der sexuellen Übergriffe von
Priestern in der katholischen Kirche auf Frauen sei viermal höher als die auf Kinder.
Weißenfels’ Anwalt sagt, Marx und Ackermann hätten massiv gegen ihre Fürsorgepflicht als Arbeitgeber verstoßen. Sie hätten Weißenfels behandelt wie eine Aussätzige. Er selbst sei aufgrund dieses Falls aus der Kirche ausgetreten. Das Bistum gibt auf Nachfrage an, man sei der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers
vollumfänglich und in Teilen sogar darüber hinaus nachgekommen. Sie teilen auch mit, die Haltung des Bistums sei geprägt davon, den Betroffenen zuzuhören und ihnen, wenn möglich, Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen und ihnen bei der Aufarbeitung zu helfen.
Offensichtlich gelinge das nicht immer. Vor vielen Jahren, sagt Weißenfels, habe ihr in einer stationären Therapie ein Arzt gesagt, sie solle Heilung nicht in der Kirche suchen, sie werde sie dort nicht finden. Damals hat sie so sehr an ihrer Institution gehangen, dass sie die Behandlung aufgrund dieser Aussage abbrach. Im Gespräch mit Karin Weißenfels und anderen Betroffenen merkt man, dass es ein viertes Z gibt, eines, das die Opfer vermissen: Zuwendung.
Man kann Zuwendung in vielen Einheiten bemessen, zum Beispiel in Mitgefühl. Am leichtesten geht es in der Einheit Geld. Die Kirchensteuererträge des Bistums Trier lagen 2019 bei 338 Millionen Euro. Das Bistum erhält von den Bundesländen Rheinland-Pfalz und Saarland außerdem jährlich mehr als 17 Millionen Euro Staatsleistungen. Diese Zahlungen sind in fast allen Bundesländern üblich, sie sind im Grundgesetz verankert und werden aus Steuern finanziert.
795 500 Euro hat das Bistum Trier seit 2010 nach eigenen Angaben an Missbrauchsopfer gezahlt, im Schnitt 5764 Euro pro Opfer, bei denen eine Zahlung bewilligt wurde.
Manche Opfer erhalten monatlich einen kleinen Betrag. Allerdings nicht von der Kirche. Diese Renten nach dem Opferentschädigungsgesetz zahlt der Staat.
Karin Weißenfels ist seit langer Zeit de facto freigestellt vom Dienst. Sie hat während dieser Recherche monatelang mit dem Bistum Trier verhandelt. Es sei für sie wichtig, von der Abhängigkeit befreit zu sein, sie möchte ihr Gehalt bis zur Rente ausbezahlt bekommen, außerdem möchte sie eine, wie sie sagt, symbolische Summe für materielle und immaterielle Schäden. Lange sah es so aus, als würde das Bistum das möglich machen, ein Vertragsentwurf war fertig. Im November schließlich wurde er vom Diözesanverwaltungsrat
abgelehnt.
Der Generalvikar schreibt ihr, es tue ihm leid und, wie zum Trost: »Weiterhin liegt Ihr Fall der Unabhängigen Aufarbeitungskommission vor. Wer weiß, was dabei im Ergebnis herauskommt …«
Am Rande der Fußgängerzone kommen Ende November in einem kleinen Raum zwölf Menschen im Namen der Aufarbeitung zusammen. Sie sind Mitglieder des Vereins der Missbrauchsopfer und Betroffenen im Bistum
Trier, kurz »MissBiT«.
Ihre Macht wächst langsam. Es kommt inzwischen wohl zu weniger Fällen, das Wissen um die Taten hat sich herumgesprochen, weniger Eltern vertrauen Priestern ihre Kinder an. Allein im Bistum Trier treten pro Jahr etwa 10000 Menschen aus. Die Opfer vernetzen sich über Social Media, bündeln Informationen, entwickeln Strategien, wie sie Bischöfen das Handwerk legen können. Es bleibt dennoch ein ungleiches Spiel.
Erster Tagesordnungspunkt heute: »Wie geht es dir?«
Mehr als 120 Menschen hat das Team inzwischen gesprochen. Man hat alles schon gehört. Dachte man. Dann sagt ein älterer Herr, er liege nachts wach und denke an den Bußgürtel, den der Täter trug, ein Werkzeug zur Selbstgeißelung, dessen Dornen ins Fleisch stechen, verwendet von manchen Mitgliedern des Opus Dei.
Im November schreibt die Sprecherin des Bistums auf Anfrage: »Unsere Statistik ermöglicht uns aktuell, Ihnen zum einen die Zahlen zu geben, die in die sogenannte MHG-Studie eingeflossen sind: Kontrolliert wurden 4680 Akten. Es gab 148 Hinweise auf Beschuldigte (= 3 Prozent).« 442 Betroffene seien in einem Zeitraum ab 1918 ermittelt worden.
Zum anderen hätten sich seit 2010 weitere 208 Betroffene gemeldet, beschuldigt würden 73 verstorbene Kleriker und 36 noch lebende. Es gebe allerdings eine Schnittmenge zu den Zahlen der MHG-Studie, man könne die Zahlen nicht einfach addieren. Drei Prozent also.
An einem Ort, den man nicht nennen darf, stört man eine Person, über die man nichts sagen darf, beim Schauen eines Tierfilms und Essen eines Käsebrots, ein Pfirsichkern nässt auf die Fernsehzeitschrift. »Was wollen Sie?«, fragt die Person und sagt, dass man nicht schreiben dürfe, dass man mit ihr gesprochen hat.
Das Bistum wird später auf Anfrage anmerken, dass man nicht ausschließen könne, dass das, was die Person schildert, in früheren Zeiten Praxis war. Für die Amtszeit der Bischöfe Marx und Ackermann könne man dies
aber verneinen.
Die Person war jahrelang ein ranghohes Mitglied des Bistums, auch unter Marx und unter Ackermann. Wenn man der Person vorhält, dass sich das Bistum Trier mit der Aufklärung von Missbrauchsfällen auffällig lange
Zeit gelassen habe, lacht die Person und sagt: »Vertuscht haben wir.« Vertuschen sei nichts Schlechtes, sagt die Person, vertuschen sei auch gesund, es müsse nicht immer alles rauskommen. Wie man das Vertuschen nachweisen könne?
Die Person sagt, man sei sehr gründlich vorgegangen. Wenn ein Priester gestorben sei, habe man sich die Akte angesehen und das Schlimmste rausgenommen – bevor sie ins Archiv gewandert sei.
Die Person im Wohnzimmer lacht ein bisschen über die eigene Teufelskerlhaftigkeit. Dann hält sie inne und fragt: »Aber das sagen Sie keinem, oder?«

 

Baltimore: Hunderte Kinder von Priestern sexuell missbraucht

in Medienberichte, Missbrauch, USA

Ein Untersuchungsbericht in den USA zeigt, dass katholische Geistliche und andere Kirchenmitarbeiter der Erzdiözese Baltimore von den 1940er-Jahren bis 2002 mehr als 600 Kinder sexuell missbraucht haben. Der Bericht stellt fest, dass die Führung der Erzdiözese den Missbrauch vertuscht hat, anstatt die Kinder zu schützen. Der Bericht listet 156 Täter auf, die größtenteils namentlich genannt werden.

https://kurier.at/chronik/welt/baltimore-hunderte-kinder-von-priestern-sexuell-missbraucht/402391730

Missbrauch: Wie die katholische Kirche den deutschen Papst schützte

in Medienberichte, Missbrauch

VERSÖHNUNG DURCH VERJÄHRUNG IST VERHÖHNUNG

in Allgemein, Medienberichte, Pressemeldungen

Die christliche Verhöhnung von Betroffenen durch die Verjährung von Verbrechen und durch die Besetzung und Benennung eines Platzes im Grazer Stadtpark.

Den Anfang nahm die Geschichte vor ca. 25 Jahren, als die katholische Kirche auf ein 1981 errichtetes riesiges Holzkreuz in der Passamtswiese des Grazer Stadtparkes eine Tafel anbrachte mit der Ortsbezeichnung „Platz der Versöhnung“.

Am 31. März 2010 hielt Kardinal Schönborn im Stephansdom eine Klage und Bußgottesdienst wegen der pädosexuellen Gewaltakte ab.

Zeitgleich kam es zu einem Protest gegen diese verhöhnende Scheinheiligkeit. Die Plattform Betroffener kirchlicher Gewalt (www.betroffen.at) unternahm die Umbenennung des Platzes am Grazer Katholikenkreuz in „Platz der Verhöhnung“: Der Buchstabe „s“ wurde einfach mit einem „h“ überklebt, was jahreslang kaum auffiel.

Nach jahrelanger katholischer Gängelung durch die Klasnic-Kommission und weiterer Weigerung der Kirche auf den Einwand der Verjährung zu verzichten wurde 2010 die bestehende Tafel mit einer neuen Tafel durch die Plattform überklebt.

Diese Tafel wurde zwei Jahre lang nicht beanstandet – im Gegenteil – die Plattform erhielt unaufgefordert zahlreiche befürwortende Zuschriften und Dankschreiben. Diese Tafel wurde aber im Sommer 2022 von unbekannt entfernt, wodurch wieder die ursprüngliche Tafel zum Vorschein kam.

Die Plattform Betroffener wollte die Verhöhnung durch die Verjährung der Verbrechen und auch die Entfernung ihrer Tafel und die kirchliche Toponymie (Benennung) eines öffentlichen Platzes nicht widerspruchslos länger dulden.
Für den 28. 12. 2022, dem Tag der Unschuldigen Kinderi entschloss man sich daher zu einer spektakulären Aktion.

Unter extrem schwierigen und gefährlichen Bedingungen, wobei Seile in ca. 20 m Höhe anzubringen waren, wurden zwei lebensgroße entsprechend präparierte Puppen am Kreuz angebracht. Nach stundenlanger Arbeit war das Werk vollbracht.

Offensichtlich wurde das Geschehen aber von Kirchenmitgliedern beobachtet und angezeigt, weshalb unmittelbar nach Fertigstellung zwei Polizisten eintrafen, verdutzt staunten und unschlüssig am Kommando anfragten, was zu tun sei.

Der noch anwesende Obmann der Plattform, Sepp Rothwangl, wurde wegen §188 (Herabwürdigung religiöser Lehren) abgeführt, in das Stadtpolizeikommando Schmiedgasse vorgeführt und dort einvernommen. Rothwangl zeigt sich verwundert, dass es möglich sei, die Lehre der katholischen Kirche noch weiter herabzuwürdigen. Die Abführung wegen des Protests betrachtet er als Täter-Opfer-Umkehr (Victim blaming)ii, ein Vorgehen, das die Schuld des Täters für eine Straftat dem Opfer zuschreiben soll. Dadurch wird das Leid des Opfers verstärkt. Statt Beistand und Hilfe erfährt das Opfer Anklage und Beschuldigung.

Als Ursache der Aktion gab Rothwangl an, dass es diese nicht gäbe, hätte die Polizei ihm vor ca. 60 Jahren unweit des Katholikenkreuzes bei einer Einvernahme in der Polizeiinspektion Paulustorgasse Glauben geschenkt, als er als eingeschüchteter Bub über die sexualisierten Übergriffe im Grazer Marieninstitut berichtete. Die Puppen wurden sofort von der Polizei wieder abgenommen und in Polizeigewahrsam genommen.

Einige Tage sind inzwischen wieder vergangen und der Fall Teichtmeister kochte inzwischen hoch, und ruft den Staatsakt (Geste der Verantwortung) in Erinnerung, wo Kirche und Politik sich theatralisch und tränenreich Asche übers Haupt streuten. Auch Teichtmeisteriii war dort als Vorleser geladen, aber die Plattform dazu explizit nicht eingeladen und die Verjährung der Verbrechen danach weiterhin gesetzlich nicht aufhoben und so die Betroffenen weiter verhöhnt.

Verjährung, das ist das Werkzeug, womit sich die Kirche und ihre Täter aus der Verantwortung und Entschädigung schleichen. Dass unzählige Opfer lebenslang leiden wird höhnisch als nicht wieder gutmachbar dargestellt.
Welch ein Hohn auch, dass gerade die Jahreszählung die Kirche nutzt, eine Zählung, die grob falsch, verlogen, sektenhaft und betrügerisch ist, wie ihre religiösen Lehren.iv

Am 19. Jänner 2023 erhielt der Obmann der Plattform wie erwartet die Nachricht, dass das Verfahren eingestellt wurde und die Puppen wieder ausgehändigt werden. Leider wurde aber dieser Protest verhindert, wobei diesmal die Polizei die Plattform Betroffen zum Schweigen brachte, wie unzählige Male bisher in den Medien und im ORF geschehen, wenn immer wieder den Journalisten vorgelegte Fälle durch Interventionen nicht veröffentlicht und so vor der Öffentlichkeit verschwiegen wurden.

Alle Betroffen werden nun aufgefordert sich gegen die Verhöhnung durch die Verjährung zu wehren und das Grazer Katholikenkreuz als Anlass zu nehmen weiter zu protestieren.

Bitte senden Sie Vorschläge, was Sie weiter unternehmen wollen und ob Sie sich an weiteren Protest-Aktionen beteiligen wollen an:
vernetzung@betroffen.at Betreff: Versöhnung/Verjährung=Verhöhnung

Erstellt durch Sepp Rothwangl
Obmann der Plattform betroffen.at

CEP -238.197

i https://de.wikipedia.org/wiki/Kindermord_in_Bethlehem#Fest_der_Unschuldigen_Kinder

ii https://de.wikipedia.org/wiki/Victim_blaming

iii https://orf.at/stories/3301505/

ivThe Scythian Dionysius Exiguus and His Invention of Anno Domini

Missbrauch in der katholischen Kirche: Andreas Perr und sein Kampf gegen die Bischöfe

in Medienberichte, Missbrauch

Missbrauchsopfer klagt Erzdiözese Wien auf 921.000 Euro

in Betroffene berichten, Medienberichte, Missbrauch, Österreich, Pressemeldungen, Prozesse, Wien

Ein Wiener wurde jahrelang von einem Pfarrer missbraucht. Dieser starb, nun klagt das Opfer die Kirche auf Schmerzengeld und Verdienstentgang.

Eigentlich war sein größter Wunsch, einmal Pfarrer zu werden. Doch was Franz S. (Name geändert) erleben musste, änderte seine Einstellung zur Kirche komplett. Der heute 51-jährige Wiener wurde von 1977 bis 1988 von einem Pater der Pfarre Heiliges Kreuz in Wien-Floridsdorf sexuell missbraucht, niemand half ihm: „Er sagte zu mir: ‚Wenn du einer von uns werden willst, dann gehört das dazu.‘ Als ich gemerkt habe, was da abgeht, hatte ich absolut kein Interesse mehr, Pfarrer zu werden“, erzählt Franz S. im Gespräch mit „Heute“.

Das Martyrium begann für Franz S. laut eigenen Angaben schon vor seinem Volksschul-Eintritt, die Übergriffe passierten überwiegend im Pfarrhaus: „Meine Pflegefamilie kannte und vertraute dem Pfarrer des Kreuzherren-Ordens. Er hat sie auch finanziell unterstützt. In der Volksschule hatte ich Religionsunterricht bei ihm, später dann die Vorbereitung auf die Erstkommunion. Er war mir sehr zugetan, lud mich mehrfach zu sich ein. Begonnen hat es mit Berührungen, die immer intensiver wurden und schließlich in brutalen Vergewaltigungen endeten“, erinnert sich Franz S.

Ich erzählte einem Mitbruder von dem Missbrauch. Aber es passierte nichts, außer dass der Pater in eine andere Pfarre versetzt wurde. Und der Missbrauch ging einfach weiter“ – Franz S.

Der Wiener erwähnte die Taten des Pfarrers – laut ihm gibt es auch weitere Opfer – vor seiner Familie, „doch sie meinten, es wird schon nicht so schlimm sein. Der Herr Pfarrer ist so nett und ein guter Umgang für mich.“ Auch einem Mitbruder des Pfarrers vertraute sich Franz S. an: „Ich erzählte ihm davon, aber es passierte nichts, außer dass der Pater in eine andere Pfarre versetzt wurde. Doch der Missbrauch ging einfach weiter.“

Auch als der Wiener älter wurde und eine Lehre als Bankkaufmann begann, belästigte ihn der Geistliche: „Er stalkte mich und passte mich vor der Schule ab. Später fand er heraus, in welcher Bank-Filiale ich arbeitete und wartete dort auf mich. Er sagte mir, dass unsere ‚Beziehung‘ etwas Besonderes wäre. Dass ich für ihn die ‚große Liebe‘ bin und mit niemanden darüber sprechen darf. Zum letzten Missbrauch kam es, als ich 17 Jahre alt war. Danach habe ich es endlich geschafft, den Kontakt zu ihm und auch zu meiner Pflegefamilie abzubrechen.“

Der Pfarrer wurde strafrechtlich nie belangt, 2009 starb er im Alter von 83 Jahren. Franz S. hingegen litt unter massiven psychischen und physischen Problemen: „Ich hatte Depressionen, Schlafstörungen, Panikattacken, Migräne und Platzangst. Und schließlich auch ein Burnout. Trotzdem konnte ich das, was mir passiert ist, lange Zeit sehr erfolgreich verdrängen. Erst ab 2009, als ich von einer Psychiaterin und einer Psychotherapeutin der psychosozialen Dienste der Stadt Wien (PSD) betreut wurde, kam mein Trauma heraus.“

Franz S. wandte sich daraufhin an die Ombudsstelle der Erzdiözese Wien und durchlief ein langwieriges Clearing-Verfahren bei der Opferschutzkommission („Klasnic-Kommission“). 2012 wurde der 51-Jährige als Opfer anerkannt. Er erhielt 35.000 Euro Entschädigung sowie 150 bewilligte Therapiestunden: „Im Vorfeld hatte es noch geheißen, dass ich so viele Therapie-Einheiten bekomme, wie ich benötige. Dann waren es auf einmal nur mehr 150 Stunden. Ich habe bisher schon über 1.000 Therapiestunden verbraucht. Für mich war es so, als würde ich nur abgespeist werden.“

Klagssumme beläuft sich auf 920.856,60 Euro

2013 wandte sich der Wiener daher an den Rechtsanwalt Dr. Heinrich Fassl, dieser reichte nach ergebnislosen Vergleichsverhandlungen eine Schadenersatz-Klage gegen die Pfarre und die Erzdiözese Wien ein. Neben 300.000 Euro Schmerzensgeld und 23.856,60 Euro Vorprozess-Kosten fordert Franz S. auch eine Entschädigung für seinen Verdienst-Entgang: „Ich bin seit 2001 als Bank-Angestellter arbeitsunfähig und musste in Pension gehen“, erklärt der 51-Jährige. Für den monatlichen Verdienst-Entgang wurden daher von Jänner 2001 bis Dezember 2015 rund 2.000 Euro, ab 1. Jänner 2016 dann 3.000 Euro veranschlagt. Macht bis Ende Juli 2022 eine gesamte Klagssumme von 920.856,60 Euro.

Doch das Erstgericht wies die Klage mit dem Hinweis auf die Verjährungsfrist ab: „Demnach hätte mein Mandant schon Klage einreichen müssen, als er sich 2010 bei der Opferschutz-Kommission gemeldet hat. Das ist aus meiner Sicht völlig überzogen. Denn damals konnte er schlicht und ergreifend noch nicht über den Missbrauch sprechen“, erklärt Anwalt Fassl.

„Wir werden zeigen, dass sich die Kirche eines ‚untüchtigen Gehilfen‘ bedient hat. Er wurde als Lehrer für Volksschul-Kinder eingesetzt und hat durch sein Fehlverhalten massive Schäden verursacht“ – Rechtsanwalt Heinrich Fassl

Fassl ging in Berufung, die Causa ging bis zum Obersten Gerichtshof. Und dieser fällte nun ein erstaunliches Urteil: Die Klage ist nicht verjährt, denn die Verjährungsfrist sei von der Erzdiözese dadurch unterbrochen worden, „dass sie weiterhin Therapiekosten übernehmen und weitere Sachverhaltserhebungen anstellen wolle“, so der OGH. Zudem wurden Vergleichsverhandlungen zwischen der Erzdiözese und Franz S. nie formell beendet.

Voraussichtlich am 22. September findet daher die Beweisaufnahme am Wiener Landesgericht für Zivilrechtssachen statt. Der Kläger Franz S. und sein Anwalt müssen nun beweisen, dass die Erzdiözese von den kriminellen Neigungen des Pfarrers gewusst hat: „Es wird nicht leicht. Mir ist kein zivilrechtlicher Prozess dieser Art bekannt. Aber wir setzen auf die ‚Gehilfenhaftung“ und werden zeigen, dass sich die Kirche eines ‚untüchtigen Gehilfen‘ bedient hat. Er wurde als Lehrer für Volksschul-Kinder eingesetzt und hat durch sein Fehlverhalten massive Schäden verursacht“, so Fassl.

Für Franz S. wird der Prozess eine Tortur: „Dieser Mann hat mein ganzes Leben zerstört. Ich habe keine Familie, hatte nie eine längere Beziehung. Ich kann seit 2001 nicht mehr arbeiten und leide nach wie vor an schweren psychischen Folgen des Missbrauchs. Ich möchte, dass meine Rechte und Ansprüche gewahrt werden.“ Gewinnt Franz S. den Prozess, wäre er das erste Missbrauchsopfer, das über die Opferschutz-Kommission entschädigt wurde und anschließend zivilrechtlich Schadenersatz zugesprochen bekommt.

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