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Missbrauch von Heimkindern gilt fast nie als Verbrechen

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Missbrauch von Heimkindern

gilt fast nie als Verbrechen

Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der Kindheit erhalten nur in wenigen Einzelfällen eine Entschädigung für ihren Verdienstentgang. Ein

Gutachter spielt dabei eine wichtige Rolle.

FRITZ PESSL

WIEN.

Seit Jahren kämpfen Missbrauchsopfer von Internaten und kirchlichen Einrichtungen („Heimkinder“)um eine Verbrechensopferrente.

Für die Zuerkennung ist das Sozialministeriumservice (SMS) zuständig, dass nur in Ausnahmefällen einen Verdienstentgang nach dem Verbrechensopfergesetz zuerkennt.

Denn das Gesetz verlangt, dass das Krankheitsbild ursächlich auf das begangene Verbrechen zurückführbar sein muss. Der für die Behörde in den meisten Fällen zuständige Sachverständige, der Neurologe und Psychiater Wolfgang Pankl, erkannte diesen Kausalzusammenhang fast nie. Selbst dann nicht, wenn mehrere Privatgutachter fachlich eine andere Meinung vertraten und klar von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) sprachen.

Die SN hatten über Klaus Oberndorfer berichtet, der als Internatsschüler im Stift Michaelbeuern von 1963 bis 1969 von mehreren Autoritätspersonen geschlagen und sexuell missbraucht worden war.

Facharzt Pankl, der vom Sozialministerium wie auch im Beschwerdeverfahren vom Bundesverwaltungsgericht als Gutachter beigezogen wurde, stellte fest, der Antragsteller sei schlicht langanhaltend depressiv. Es gebe keinen Kausalzusammenhang der gesundheitlichen Leiden mit den erlittenen Sexualverbrechen.

Dem Psychiater zufolge hatte Oberndorfer in seiner Jugend auch einen Verkehrsunfall erlitten und als Neunjähriger seinen Vater durch Selbstmord verloren, was seine Leiden mitverursacht haben könnte.

Daraufhin meldeten sich zahlreiche weitere Opfer, denen mit ähnlichen Argumenten eine Verbrechensopferrente vorenthalten wurde.

Den SN liegen zahlreiche Akte und Arztbefunde vor. Pankl diagnostizierte in seinen Gutachten immer wieder Dysthymie, eine länger anhaltende depressive Störung.

Einem 65-jährigen Wiener beschied der Amtsgutachter: „Ein Kausalzusammenhang mit dem Verbrechen ist nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen.“
Und weiter: „Es muss davon ausgegangen werden, dass bereits vor Heimaufnahme traumatisierende Erfahrungen gemacht wurden, unter anderem Alkoholkrankheit des Vaters, Inzest mit Haftstrafe. Überforderung der Mutter, Erziehungsnotstand und mangelnde Schulleistungen haben zur Heimaufnahme geführt.“ Pankls Schlussfolgerung: „Das erlittene Trauma ist nicht mit Wahrscheinlichkeit alleinig für das gegenwärtige psychische Zustandsbild zu verantworten.“
Das Opfer ist empört: „Pankl hat sich genau 24 Minuten Zeit genommen – zwölf Minuten Anamnese, zehn Minuten Befragung zum Fall, zwei Minuten Verabschiedung. Und er macht ein Gutachten über mein ganzes Leben.“

Ein 59-jähriger Wiener legte seinem Antrag sechs Privatgutachten von Neurologen und Psychologen bei, darunter zwei Fachärzten des Universitätsklinikums AKH. Während diese eine Persönlichkeitsänderung nach Extremerfahrungen in der Jugend diagnostizierten, kam Amtsgutachter Pankl zum Schluss: „Die Misshandlungen haben möglicherweise einen Einfluss auf den derzeitigen psychischen Leidenszustand, sind jedoch nicht als wesentliche Ursache anzusehen (…) Aus fachärztlicher Sicht ist es bei einer Vielzahl an Belastungen unmöglich, Einzelne davon zu individuieren, zumal auch zu den traumatisierenden Erlebnissen ein Abstand von ungefähr 40 Jahren besteht.“

Einem 64-jährigen Wiener beschied der Amtssachverständige „Dysthymie und paranoide Persönlichkeitsstörung“. Ein Zusammenhang zwischen den Missbrauchshandlungen im Internat und der Arbeitsunfähigkeit liege nicht vor.
„Der Antragsteller war bereits vor Heimaufnahme durch die chaotischen familiären Verhältnisse schwer traumatisiert“, so Wolfgang Pankl. Auch die „Abschiebung“ des Kindes ins Heim könnte den Leidenszustand mitverursacht haben.

Pankl sagte vor Gericht, er habe seit 2010 zwischen 150 und 200 Gutachten nach dem Verbrechensopfergesetz erstellt. Großteils führten diese zur Abweisung der Anträge auf Verdienstentgang. Der Facharzt selbst beantwortete einen Fragen-katalog nicht. Pankl habe von sich aus mit Ende 2020 seine Tätigkeit beendet, er sei nichtmehr als Amtssachverständiger im Verbrechensopfergesetz tätig, hieß es aus dem Sozialministerium.

Demnach wurden von Heimopfern 301 Anträge auf Verdienstentgang gestellt, 244 davonwurden abgelehnt, 52 zuerkannt und fünf Verfahren sind noch anhängig. Bereits im Jahr 2014 nahm der damalige SPÖ-Sozialminister Alois Stöger umstrittene Gutachter in Schutz:
„Das Verbrechensopfergesetz ermöglicht eine effektive Hilfe für Opfer aktueller oder zeitnah zurückliegender Straftaten. Je weiter Sachverhalte in der Vergangenheit zurückliegen, umso schwieriger wird naturgemäß ihre Ermittlung. Bei langen zurückliegenden Ereignissen können daher heute entgangene Verdienstchancen nur schwer beurteilt werden“, erklärte Stöger.

Von den Betroffenen, die seit Jahrzehnten leiden und ohne therapeutische Hilfe nicht leben könnten, hört man immer wieder: „Es würde sehr helfen, vom Staat als Verbrechensopfer anerkannt zu werden.“ Und auf die Frage, was sie am meisten belastet: „Wie immer noch mit Heimkindern umgegangen wird. Und dass Verfahren bewusst auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinausgezögert werden.“