Überarbeitete Version eines Beitrages zum Programm der Uraufführung des Dramas „Die Beichte“ von Felix Mitterer in Wien
„Die von einem Kleriker begangene Straftat gegen das sechste Gebot des Dekalogs mit einem noch nicht 18jährigen minderjährigen Menschen“ – so definiert man im Vatikan sexuellen Kindesmissbrauch. Das ist eine schamhafte verbale Verbrämung, ein Versuch, den peinlichen Sachverhalt nicht beim Namen nennen zu müssen. Die Wörter „sexuell“ kommen nicht vor, „Analverkehr“ nicht und „Oralverkehr“, „Schmerzen“ und „Scham“.
Das ist aber nicht alles – diese Umschreibung stellt vor allem unmissverständlich klar, wie römisch-katholische Geistlichkeit ein solches Verbrechen primär versteht: die Straftat richtet sich nicht gegen den minderjährigen Menschen, seine sexuelle Integrität oder Autonomie, sondern gegen das Gebot über den Ehebruch. Und es wird nicht an ihm begangen, sondern mit ihm.
Mit dieser Wortwahl zeigt sich bereits die gesamte Problematik des Umgangs mit sexuellen Übergriffen durch Geistliche und andere Mitarbeiter der römisch-katholischen Kirche: Ignoranz gegenüber der sexuellen Selbstbestimmung des Menschen ebenso wie das Phänomen, das als blaming the victim sozialpsychologische Handbücher füllt. Die Kirche entlässt ihre Opfer nicht aus dem Gefühl, mitschuldig zu sein an dem, was ihnen im Schoße der Kirche widerfahren ist.
Unterdessen erschüttert das Phänomen des Missbrauchs durch Kleriker die Kirche in aller Welt. Während in Ländern mit angloamerikanischem Rechtssystem eindrückliche Schadensersatzansprüche der Opfer die Kirche zum Nachdenken nötigten, brauchte die Kirche im seit Ferdinand II. ungehemmt katholischen Österreich die Zahlung unleistbarer Schmerzensgelder bislang nicht zu befürchten. Auch jetzt wird versprochen, dass die Kirche sich der Thematik annehmen wird. Kann man ihr trauen?
Welche Erfahrungen haben wir mit dem Umgang der Kirche in Fällen, wo der Verdacht eines sexuellen Missbrauchs auftaucht? Innerhalb der Kirche, ist ein solches Delikt, auch ein „vager Verdacht“ – falls ein Priester beschuldigt wird – an sich der Glaubenskongregation zu melden, die – wenn es sich als notwendig erweist – Kirchenstrafen verhängen kann. Prozesse dieser Art unterliegen der päpstlichen Geheimhaltung. Sie erfolgen in der Abgeschiedenheit katholischer Urteilsfindung und sind für Außenstehende nicht nachvollziehbar, jedenfalls nicht einsehbar. In der österreichischen Praxis wurden bei erhärtetem Verdacht Priester für gewöhnlich in den „wohlverdienten Ruhestand“ versetzt. Der überraschten Öffentlichkeit wird dann kolportiert, dass dies aus „Gesundheitsgründen“ erfolgt sei. Möglicherweise sind auch Priester, die bereits strafrechtlich wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung verurteilt worden sind, teilweise noch in Amt und Würden.
Solches Vorgehen macht skeptisch. Aus der Praxis des Kinderschutzzentrums, das sich seit mehr als 15 Jahren mit der Problematik klerikalen Missbrauchs beschäftigt, ist deutlich geworden, dass die innerkirchliche Dynamik mit den Jahrtausende alten Hierarchien und Verantwortungslabyrinthen letztlich erfolgreich verhindert, dass Fälle von sexuellem Missbrauch mit notwendiger Offenheit, Transparenz und Konsequenz untersucht und beendet werden. Der Hinweis auf Missbrauch verstaubt als Akt auf eminenten Schreibtischen, führt – vor allem in Orden – zu verschämten Versetzungen von Würdenträgern, bei denen nicht einmal gewährleistet wird, dass ein Täter in seiner neuen Tätigkeit nicht erneut Kontakt zu Kindern oder Jugendlichen hat – und gern auch zu fragwürdigen finanziellen Zuwendungen der Diözese, die kombiniert mit elaborierten Verträgen, an Schweigegeld erinnern.
Wir haben über Jahre als Mitglied der Ombudsstelle der Erzdiözese Wien geglaubt, dass man den Opfern durch Vermittlung auf dem innerkirchlichen Wege helfen könne. Inzwischen sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass die Kirche mit der Aufgabe überfordert ist.
Notwendig ist stattdessen, dass ein neutraler, von der Kirche unabhängiger Ansprechpartner zur Verfügung gestellt wird, der den Opfern Gespräche anbietet und – je nach den Erfordernissen des jeweiligen Falles – Staatsanwaltschaft, Vertreter der Kirche, RechtsanwältInnen oder andere Hilfsorganisationen einschaltet. Unsere Überzeugung ist, dass die einzige Möglichkeit, sexuellen Missbrauch in der Kirche wirklich aufzudecken und zu beenden, jener über die offizielle polizeiliche Anzeige und ein öffentliches Gerichtsverfahren ist. Nur so können die Betroffenen – unter dem Schutz von psychosozialer und juristischer Prozessbegleitung – von neutralen, geschulten ProfessionistInnen objektiv vernommen und gehört werden. Nur so werden die Vorwürfe transparent und es wird deutlich, welche Verantwortlichkeiten für die Straftaten auch von Seiten der Kirchenhierarchie zu tragen sind. Selbstredend sind auch die Rechte des Beschuldigten durch die rechtsstaatlichen Garantien gewährleistet und werden nicht durch imageförderndes Kalkül hintangestellt.
Wenn strafrechtliche Wege nicht mehr möglich sind, ist schlkießlich zu prüfen, inwieweit es möglich ist, zivilrechtliche Verfahren anzustrengen.
In Österreich beginnt die Verjährung einer Sexualstraftat seit 01.10.2010, wenn das Opfer zum Zeitpunkt der Tat minderjährig gewesen ist, erst mit der Vollendung dessen 28. Lebensjahres . Bei einem sexuellen Missbrauch, bei dem es nicht zu Penetrationen gekommen ist, beträgt die Verjährungsfrist in der Regel 5 Jahre , bei sog. „schweren sexuellem Missbrauch“ beträgt sie 10 Jahre . Somit kann also eine Straftat, auch wenn sie sehr lange zurück liegt, von der oder dem Betroffenen bis zum 33. bzw. 38. Lebensjahr, in besonders schweren Fällen bis zum 48. Lebensjahr angezeigt und der Täter auch dann noch strafrechtlich geahndet werden. Die Verjährungsregelungen sind also inzwischen außerordentlich kompliziert. Es ist jedenfalls sinnvoll, diesbezüglich professionelle Beratung aufzusuchen. Vor allem wenn man davon Kenntnis erlangt hat, dass der Täter möglicherweise immer noch sexuelle Übergriffe begeht, es sich als um einen Wiederholungstäter handelt, ist denkbar, dass das Verbrechen noch nicht verjährt ist .
Diese verlängerte Verjährungsfrist ist sinnvoll, da es oft sehr lange dauert, bis Opfer von klerikalem Missbrauch über ihre Erfahrungen zu reden beginnen. Irritation über die eigenen Wahrnehmungen und Erinnerungen, eine oft ungebrochene Loyalität zu einer Kirche, die viele als ihre „Heimat“ erlebt hatten, die mitunter ungebrochene Verbundenheit zum Täter, manchmal aber auch bloß andauernder Gehorsam oder existentielle Angst davor, öffentlich als Verräterin oder Lügner gebrandmarkt zu werden, garantieren das Schweigen der Opfer. Dazu kommt, dass die Morallehre der Kirche ebenso wie die Aussagen der Täter den Opfern das Gefühl geben, selbst verantwortlich für den Missbrauch zu sein, dass sie die sündigen „Verführerinnen“ des nur zu „gutgläubigen und vertrauensseligen“ Priesters oder Ordensangehörigen gewesen seien. Nicht selten sind solche Übergriffe in Beichtgespräche, „Reinigungs“- oder Strafrituale bzw. andere religiöse „Unterweisungen“ verwoben, so dass das Opfer oft nicht diskriminieren kann, was schon übergriffig ist und was noch Teil des römisch-katholischen Ritus. Es fällt dann schwer den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen zu trauen. Es wird eben vermittelt, wie es die eingangs zitierte Definition bewerkstelligt, dass diese „Sünde“ miteinander begangen worden ist.
Dieser Eindruck kann dadurch genährt werden, dass sich das Opfer durch die vorgebliche Zuneigung des „spirituellen Meisters“ zunächst auch geschmeichelt vorkommt, sich als „auserwählt“ erlebt, und z. B. in einer größeren Gruppe von Gemeindemitgliedern einen Sonderstatus erlangt. Es wird dann schwer zwischen „gut“ und „böse“, „richtig“ und „falsch“ zu unterscheiden – vor allem wenn der Täter tagtäglich eine Sexualmoral predigt, die jede außereheliche Sexualität als Unzucht geißelt, welche einen „schwere(n) Verstoß gegen die Würde … der menschlichen Geschlechtlichkeit selbst, die von Natur aus auf … die Zeugung und Erziehung von Kindern hingeordnet ist“ darstelle. Und zudem eine Gehorsamspflicht postuliert, die von allen verlangt, „der Autorität die ihr gebührende Ehre zu erweisen und die Personen, die ein Amt ausüben, zu achten und ihnen Dankbarkeit und Wohlwollen entgegenzubringen“ .
Garniert mit der Drohung der den Sünden folgenden Höllenpein fördert das katholische Denkmodell systematisch, dass die Opfer die Schuld des Erlebten zunächst bei sich suchen, eher durch Versuche der Selbstläuterung und Verdrängung reagieren als durch Widerstand und Mitteilung an Dritte. Dies ist vor allem der Fall, wenn sie den Missbrauch nicht als pure Vergewaltigung erleben mussten, sondern dieser womöglich auch mit positiven Affekten verbunden war und sie damit wiederum das Gefühl entwickelten, sich selbst der „Wollust hingegeben“ zu haben.
Es wäre aber eine Illusion zu glauben, dass Missbrauch durch Geistliche besonders einfühlsam oder „liebevoll“ wäre. Im Gegenteil wissen wir aus Studien, dass missbrauchende Priester im Vergleich zu Familienangehörigen mit mehr Gewalt vorgehen und brutalere Formen der Vergewaltigung praktizieren. Sie nutzen ihre Autorität und ihre spirituelle Macht, um Kinder und Jugendliche emotional abhängig zu machen, um sie dann für ihre sexuellen Bedürfnisse auszubeuten. Körperliche Züchtigung und sexuelle Übergriffe gehen oft von derselben Person aus. Das geschieht in der Abgeschiedenheit der Kirchen und Klöster, in Internaten bei Nachhilfe und Nachtwache, bei der Messvorbereitung und sogar während des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen.
Psychologische und psychotherapeutische Hilfe in Fällen von Missbrauch durch Angehörige der Kirche bedeutet deshalb zuerst ein Ordnen der Gefühle. Es geht darum, die Opfer darin zu stärken, die eigenen Gefühle und Wahrnehmungen ernst- und anzunehmen und ihnen dabei zu helfen, sie gegen die moralischen und religiösen Suggestionen der Kirche zu verteidigen. Es gilt ihnen dabei zu helfen zu differenzieren, welche Wünsche sie als Abhängige, als Schüler, als Kinder oder Jugendliche der Autoritätsperson gegenüber hatten und wie auf der anderen Seite ein Erwachsener seine narzisstischen und/oder sexuellen Bedürfnisse durch Ausnutzung dieser Wünsche befriedigte – es geht um die Klärung von Verantwortlichkeit.
Wenn die Opfer dies wollen, kann darüber hinaus überlegt werden, wie man gegen den Täter und die Verantwortlichen im Hintergrund vorgehen kann. Dabei muss klar sein, dass dies ein schwerer Weg sein wird – vor allem wenn die Presse sich für diesen Fall interessiert und damit eine öffentliche Dynamik evoziert wird, die unvorhersehbar und womöglich kontraproduktiv ist. Aber auch weil die römisch-katholische Kirche hierorts nach wie vor eine einflussreiche politische Größe ist, die zu ihrem Selbstschutz zu interessanten Interventionen fähig sein dürfte.
Dennoch ermutigen wir Opfer dazu, sich bei unabhängigen Anlaufstellen zu melden und wenn möglich den Rechtsweg einzuschlagen – weil dies oft die einzige Möglichkeit ist, Kinder und Jugendliche davor zu schützen, neue Opfer des gleichen Täters zu werden.
- Johannes Paul II.: Motu proprio mit der Bekanntgabe von Vorschriften bezüglich schwerer Straftaten, die der Glaubenskongregation vorbehalten sind. Quelle: http://www.uni-tuebingen.de/uni/ukk/nomokanon/quellen/023.htm
- Geregelt im § 58 (3).3 StGB: http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Bundesnormen/NOR40114231/NOR40114231.pdf
- Ist es zu einer schweren Körperverletzung gekommen, so ist ein sexueller Missbrauch mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünfzehn Jahren bedroht (§ 207 (3) StGB). Dann ist die Verjährungsfrist 20 Jahre (§ 57 (3) StGB).
- Geregelt im § 57 StGB: http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Bundesnormen/NOR12039044/NOR12039044.pdf. Auch hier ist der Strafrahmen dann erhöht, wenn die Tat eine schwere Körperverletzung oder eine Schwangerschaft des unmündigen Opfers zur Folge hatte (bis zu fünfzehn Jahren). Damit erhöht sich in solchen Fällen die Verjährungsfrist auf 20 Jahre.
- Hier wird § 58 (2) StGB wirksam: „Begeht der Täter während der Verjährungsfrist neuerlich eine mit Strafe bedrohte Handlung, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruht, so tritt die Verjährung nicht ein, bevor auch für diese Tat die Verjährungsfrist abgelaufen ist“.
- Katechismus der Katholischen Kirche, 2353
- Katechismus der Katholischen Kirche, 1900.
- “Die Todsünde ist wie auch die Liebe eine radikale Möglichkeit, die der Mensch in Freiheit wählen kann. Sie zieht den Verlust der göttlichen Tugend der Liebe und der heiligmachenden Gnade, das heißt des Standes der Gnade, nach sich. Wenn sie nicht durch Reue und göttliche Vergebung wieder gutgemacht wird, verursacht sie den Ausschluss aus dem Reiche Christi und den ewigen Tod in der Hölle, da es in der Macht unseres Willens steht, endgültige und unwiderrufliche Entscheidungen zu treffen.“ (ebd, 1861)