betroffen.at

Plattform Betroffene kirchlicher Gewalt

in Allgemein

Wir sind die erste und einzige unabhängige Anlaufstelle von Betroffenen für Betroffene kirchlicher Gewalt

Wir helfen Menschen die sexueller oder körperlicher Gewalt durch kirchliche MitarbeiterInnen ausgesetzt waren und sind. Weiters wollen wir der Vertuschung kirchlicher Einrichtungen entgegenwirken und die Bevölkerung über die Methoden der Täter und deren Auswirkungen aufklären, um unsere Kinder vor zukünftigen Übergriffen bestmöglich zu schützen.

  • Vertrauliche Anlaufstelle für Betroffene.
  • Erstberatung und Vermittlung von psychotherapeutscher Betreuung.
  • Vernetzung von Betroffenen.
  • Aufbau eines Dokumentationsarchivs.
  • Regelmäßige Veranstaltungen und Aktionen.
  • Aufklärung und Medienarbeit

 

Gemeldete Missbrauchsfälle der katholischen Kirche in Österreich 2024

in Missbrauch, Österreich

Basierend auf den verfügbaren Informationen gibt es keine spezifischen Daten zu gemeldeten Missbrauchsfällen der katholischen Kirche in Österreich für das Jahr 2024. Allerdings können einige relevante Informationen zum Thema Missbrauch in der katholischen Kirche in Österreich zusammengefasst werden:

Maßnahmen und Strukturen

Die katholische Kirche in Österreich hat verschiedene Maßnahmen ergriffen, um Missbrauchsfälle zu behandeln und zu verhindern:

  • Seit 2010 gibt es eine verbindliche Rahmenordnung mit dem Titel „Die Wahrheit wird euch frei machen“, die für alle österreichischen Diözesen und Ordensgemeinschaften gilt[2].
  • Diese Rahmenordnung wurde mehrfach überarbeitet, zuletzt im September 2021[2].
  • In jeder Diözese wurden Ombudsstellen eingerichtet, die als erste Anlaufstelle für Fragen und Vorkommnisse im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch und Gewalt im kirchlichen Raum dienen[2].
  • Zusätzlich gibt es in den Diözesen Stabstellen für Kinder- und Jugendschutz, die sich auf Prävention konzentrieren[2].

Gemeldete Fälle

Obwohl keine aktuellen Zahlen für 2024 vorliegen, gibt es einige Informationen zu gemeldeten Fällen:

  • Laut der Website der Ombudsstellen haben Betroffene insgesamt 8.047 Vorfälle gemeldet[6]. (Bitte beachten Sie, dass das genaue Datum dieser Statistik nicht angegeben ist.)

Allgemeine Entwicklungen

Die katholische Kirche steht weiterhin vor Herausforderungen im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen:

  • Die Austrittszahlen aus der katholischen Kirche sind in den letzten Jahren gestiegen, wobei 2022 ein Rekordhoch von 1,3 Millionen Kirchenaustritten erreicht wurde[3].
  • Andauernde Aufdeckungen von langjährigen Missbrauchsfällen an Kindern und Jugendlichen innerhalb der katholischen Kirche werden als Hauptgrund für diese Entwicklung genannt[3].
  • Es gibt Forderungen nach Reformen und strukturellen Veränderungen, auch in Bezug auf die Rolle der Frauen und queerer Menschen in der Kirche[3].

Die katholische Kirche in Österreich scheint sich bemüht zu haben, Strukturen zur Prävention und Aufarbeitung von Missbrauchsfällen zu schaffen. Dennoch bleibt das Thema aktuell und herausfordernd für die Institution.

Citations:
[1] https://www.kleinezeitung.at/international/18976585/erzdioezese-los-angeles-zahlt-880-millionen-dollar-an-missbrauchsopfer
[2] https://www.ombudsstellen.at
[3] https://www.zeit.de/thema/katholische-kirche
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_in_der_r%C3%B6misch-katholischen_Kirche_nach_L%C3%A4ndern
[5] https://www.derstandard.at/story/3000000241041/erzdioezese-los-angeles-zahlt-rekordsumme-an-missbrauchsopfer
[6] https://www.ombudsstellen.at/dioezesankommissionen
[7] https://www.opfer-schutz.at/Mainframe.html
[8] https://www.derstandard.at/story/3000000236830/papst-will-bu223akt-zu-missbrauch-am-beginn-der-weltsynode

Vater Unser

in Betroffene berichten, Heimkinder, Medienberichte, Missbrauch, Österreich, Polen, Pressemeldungen, Salzburg

– SEXUELLER MISSBRAUCH IN DER KATHOLISCHEN KIRCHE

SEXUELLER MISSBRAUCH, EXPLIZITE SCHILDERUNGEN

Vom Priester vergewaltigt, missbraucht, bedroht – und viel zu lange geschwiegen. Auch Jahrzehnte danach schockieren die brutalen Verbrechen der Gottesmänner. Eine Reportage über Kindesmissbrauch, Macht und Manipulation in der katholischen Kirche.

„Die Hosen runter, bis zu den Fersen. Hemd hochheben, so weit es ging, damit die Arme oben waren. Dann hat er einen Gürtel genommen und von den Kniekehlen bis über das Kreuz hoch zugeschlagen. Dann musste ich die Beine auseinandernehmen, und er hat auf die noch nicht reifen Geschlechtsteile geschlagen. Daher bin ich auch nicht zeugungsfähig“, erzählt der heute 67-jährige Klaus Oberndorfer. Er wurde in einem oberösterreichischen Stift in seiner Schulzeit in den Jahren 1963 bis 1967 von einem Priester (Name der Redaktion bekannt) sexuell missbraucht und vergewaltigt. Herr Oberndorfer lebt heute in Vöcklabruck, erklärt sich aber bereit, für das Gespräch mit mir nach Wien zu kommen. Ihm ist wichtig, dass Geschichten wie die seine nicht mehr totgeschwiegen werden, wie es jahrelang üblich war. Bei unserem Treffen spricht er ruhig, gefasst, und schreckt auch nicht davor zurück, in allen Details zu erzählen, was ihm widerfahren ist. „Es war dann meistens nach 22 Uhr, als er die schlafenden Jungen zu sich holte. Er hat sich per Post immer große Packungen Gleitgel zukommen lassen. Weil dann die Verletzungen nicht so groß waren, und dann, entschuldigen Sie den Ausdruck, konnte er uns auch nicht so arg „den Arsch aufreißen“. Klaus Oberndorfer war nicht das einzige Opfer: Über zwanzig seiner Internatsschüler, allesamt Jungen, hat der Pfarrer in dieser Zeit sexuell missbraucht. Geredet hat damals niemand darüber. Früher war es auch oft üblich, dass Täter einfach in eine andere Pfarre versetzt wurden. „Heute wird nicht mehr versetzt. Das passiert nicht mehr.“, erklärt Martina Greiner-Lebenbauer von der Stabsstelle für Missbrauchs- und Gewaltprävention der Erzdiözese Wien. Bis heute haben sich 2215 Betroffene an die Stabsstelle gewendet, die Fälle reichen von 1950 bis heute, darunter fällt auch beispielsweise Spiritueller Machtmissbrauch. Die Liste der Beschuldigten umfasst Priester, Erzieher, Ordensmänner und Ordensfrauen, sowie ehrenamtliche Mitarbeiter der katholischen Kirche. Diese Fälle wurden bei der Klasnic-Kommission, einer österreichweiten Opferschutzanwaltschaft, gemeldet und von der Kirche anerkannt. (Siehe Interview unten) Die Dunkelziffer dürfte viel höher sein: Erstens sind es oft Taten, die verjährt sind, oder Täter, die bereits verstorben sind. Sexueller Missbrauch verjährt laut österreichischem Recht nach zwanzig Jahren. Aber viele Opfer trauten und trauen sich nicht, an die Öffentlichkeit zu gehen – zu lange wurde diese Problematik seitens des Klerus verheimlicht und unter den Teppich gekehrt.

Der Fernsehraum des Internats

Erst Anfang 2019 hat Papst Franziskus einen Erlass mit neuen Regeln im Umgang mit Missbrauch veröffentlicht. Demnach sind alle Kleriker und Ordensleute verpflichtet, den kirchlichen Behörden „unverzüglich alle ihnen bekannt gewordenen Berichte über Missbrauch zu melden“. Sie müssen außerdem jeden Versuch anzeigen, die Tat zu vertuschen und den Täter zu decken. Nach Jahrzehnten, in denen sexueller Missbrauch in der Kirche verschwiegen und vertuscht wurde, bleibt das Thema aber trotz jüngster Bemühungen ein Tabuthema – vor allem auch unter den Opfern. Im Zuge meiner Recherche nehme ich Kontakt zu mehreren Betroffenen auf, die nach Telefonaten und E-Mail-Austausch doch nicht möchten, dass ihre Geschichte erzählt wird. Es sind oft schon erwachsene Menschen, die in Tränen ausbrechen – zu groß ist die Angst vor der Stigmatisierung. Nicht so bei Klaus Oberndorfer, der seine Leidensgeschichte zuletzt der Rechercheplattform Addendum anvertraute. Biber liegen über 300 Seiten Gerichtsdokumente aus dem Prozess von 1970 vor, in den Oberndorfer verwickelt war. In den Dokumenten sind die Zeugenaussagen der Opfer sowie die des Pfarrers genau dokumentiert. Oberndorfer erinnert sich: „Wir hatten einen Fernsehraum. Da saßen immer beim Fernsehen ein, zwei Kinder auf seinem Schoß und er hat mit den kleinen Penissen rumgespielt. Das haben alle gesehen, bis zu fünfzig Kinder“, sagt er mit ernster Miene. Das erste Mal, als der Priester ihn anfasste, war Klaus Oberndorfer elf Jahre alt.

„Wir kannten die Welt nicht. Wir waren kleine Kinder und dachten, wir werden bestraft, weil wir schlimm waren. Er hat uns ja immer Vorwürfe gemacht.“ Wenn das Bett zum Beispiel nicht ordentlich gemacht war, das Hemd nicht genauestens gefaltet, wussten die Jungen schon, was sie erwartet. Wer den strengen Regeln des Priesters nicht folgte, wurde verprügelt oder sexuell misshandelt. Die Schüler nahmen das alles so hin, sie dachten, sie wären selbst dafür verantwortlich. Bis irgendwann endlich einer der Jungen seinen Eltern von den Taten des Priesters erzählte. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, bei der der Priester zu zwölf Monaten schweren Kerkers verurteilt wurde (Anm. d. Red.: Ein Raum, in dem eine Beton-Pritsche zum Schlafen stand und man nur Brot und Wasser bekam). Aber nicht aufgrund der Vergewaltigungen und des sexuellen Missbrauchs, der Hauptanklagepunkt lautete „Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts“. Homosexuelle Handlungen waren laut österreichischem Recht bis 1971 nämlich illegal.

So wurde auch Oberndorfer verurteilt – aus dem Opfer wurde er zum Täter gemacht. „Zwei Monate schweren Kerkers, bedingt. Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Da ich ja sexuelle Handlungen mit demselben Geschlecht vollzogen habe, wurde auch ich verurteilt.“ Die Strafe musste Oberndorfer nicht absitzen, da die Strafe auf Bewährung ausgesprochen wurde. „Ich solle einfach nichts Unzüchtiges mehr mit Männern machen“, hörte Oberndorfer bei seinem Urteil. Die psychischen und physischen Narben aber trägt der Mann bis heute. Sein Täter, ein mittlerweile sehr alter Mann, lebt noch. Nach seiner Haftentlassung bekam der Priester sogar noch eine Stelle an einem theologischen Institut einer Universität in Österreich – und arbeitete somit weiter mit jungen Menschen.

Ein Auszug aus dem Gerichtsprotokoll 1970/Bereitgestellt

Ein Auszug aus dem Gerichtsprotokoll 1970/Bereitgestellt

„Der Priester war ja ansonsten immer gut zu uns. Also hat das keiner hinterfragt.“

„Dass wir zwei jetzt einfach miteinander telefonieren und darüber sprechen, wäre in den 70ern undenkbar gewesen, Aleksandra“, erzählt mir der heute 57-jährige Klaus Fluch, der während seiner Schulzeit Anfang der 70er Jahre im österreichischen St. Gallen jahrelang von einem Priester missbraucht wurde. Herr Fluch und ich teilen unsere Kommunikation auf mehrere Telefonate und Sprachnachrichten auf. Es dauert aber nicht lange, bis eine gegenseitige Vertrauensbasis aufgebaut ist. „Ich habe ja lange nicht mal gewusst, dass das sexueller Missbrauch ist, was mir da geschieht. Dass die ersten Erfahrungen, die ich eigentlich hätte mit Mädchen machen sollen, mit einem viel älteren Priester waren.“ Auch er macht der katholischen Kirche Vorwürfe was den Umgang mit diesen Fällen betrifft. In der Kirche sei das Thema Macht und Machtmissbrauch seit Jahrhunderten präsent, es ist immer wieder dasselbe Muster. Wie in seinem Fall: Fluch stammte aus einer sozial schwachen Familie. „Genau solche Kinder wie mich hat sich der Pfarrer ausgesucht. Bei der Beichte fragte er mich genau über die Verhältnisse zuhause aus. Er wusste, dass er uns mit gutem Essen und der Aufmerksamkeit, die wir daheim nicht hatten, locken kann. Er wusste genau Bescheid, dass wir am angreifbarsten waren.“ Fluch war elf Jahre alt, als der Dorfpfarrer ihn und seinen gleichaltrigen Freund zum ersten Mal zu sich in den Pfarrhof einlud. Der Pfarrer war auch der Religionslehrer der beiden Jungen. Der Ablauf der „Besuche“ war immer gleich: In der Pfarrkanzlei stellte der Priester vor einen Schreibtisch zwei Stühle hin und begann, die Jungen über ihr Privatleben auszufragen. Er wollte wissen, „was mit den Mädels läuft“ und ob die beiden schon erste sexuelle Erfahrungen gemacht hatten. „Er erklärte uns, dass Kinder entstehen, wenn ein Schwanz in eine Möse kommt. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutet.“ Fluch vermutet heute, dass diese Gespräche den Priester sexuell erregt haben. „Nachdem er uns ausgefragt hatte, mussten wir die Hose bis zu den Knöcheln hinunterziehen. Dann ist das Licht vollständig ausgegangen.“ Der Pfarrer kroch unter dem Tisch durch und begann, die zwei Jungen mit der Hand zu befriedigen. „Er begann, uns Anweisungen zu geben, wie wir onanieren sollten. Ich wusste ja gar nicht, was das soll. Ich hatte ja damals noch nicht mal eine richtige Erektion.“  Er erinnert sich, dass ihm danach der Intimbereich tagelang wehgetan hat. Fluch war sich aufgrund seines geringen Alters und mangelnder sexueller Aufklärung nicht im Klaren, was hier passiert. Klar war nur eines: Sie dürften es niemandem erzählen, denn das wäre eine Todsünde und dann würden die beiden tot umfallen. Sie glaubten ihm. „Der Priester war ja ansonsten immer gut zu uns. Also hat das keiner hinterfragt.“ Er genoss sehr hohes Ansehen im Dorf, die Bewohner zeigten große Ehrfurcht vor ihm. Heute glaubt er, dass das eine riesige kollektive Angst war, die da mitspielte. „Der Pfarrer hat ja über 30 Jungen missbraucht. Es kann nicht sein, dass keiner davon wusste.“ Tatsächlich: Als Fluch und sein Freund einmal daheim davon erzählten, dass sie ihn oft besuchen würden, hieß es seitens der Eltern nur: „Gehts nicht zu dem. Der pudert euch in den Arsch, da rinnt’s euch die Suppn obe.“ Was das bedeutete, wusste Fluch damals auch nicht.

„Du Dreckschwein, halt die Goschn, du Kinderschänder.“

 „Ich war nur froh, dass ich nie eine ganze Nacht bei ihm verbringen musste. In unserer Gemeinde gab es einen taubstummen Jungen, der die Nächte manchmal beim Priester verbrachte und dabei jämmerlich geschrien hat. Der Priester hat uns erklärt, dass der Junge sich nachts alleine fürchtet und er deshalb bei ihm im Zimmer schlafen muss. Wir dachten nur, dass es gut sei, dass der Herr Pfarrer bei ihm schläft, er würde ihn schon trösten.“ Dass die gedämpften Schreie des Jungen davon kamen, dass er nächtelang vergewaltigt wurde, realisierte Fluch erst nach Jahren. Nach Jahrzehnten der Therapie und Aufarbeitung war es dann soweit: Fluch vertraute sich dem befreundeten Dorfarzt an und auf Drängen dessen kam es dann zu einem Gespräch zwischen Fluch, zu dem Zeitpunkt schon erwachsen, und seinem Täter, damals schon einem sehr alten Mann. Wieder in den Pfarrhof zu gehen, in dem ihm die Leidensgeschichte widerfahren ist, war sehr schwer. Der Pfarrer hat versucht, sich zu erklären. „Er meinte, dass, wenn man in einer lieben, guten Familie groß wird, dann wird man nicht pädophil.“ Der Pfarrer hätte in seiner Kindheit nie richtige Liebe erfahren, er war in einem katholischen Heim aufgewachsen, in dem Frauen immer schlechtgeredet wurden. Seinen kläglichen Erklärungsversuchen folgte eine Drohung, er würde sonst dafür sorgen, dass Fluch in ein Heim für psychisch Abnorme käme. Fluch solle solange der Priester lebt ja nicht mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit gehen. „Was du danach machst, ist mir wurscht, da kommt eh die Sintflut.“ Alles, was Fluch dem Pfarrer danach zu sagen hatte, war: „Du Dreckschwein, halt die Goschn, du Kinderschänder.“ Und er redete. Er ging mit seinem Fall an die Öffentlichkeit, allerdings wurde ihm zu dem Zeitpunkt erklärt, dass der Pfarrer bereits kürzlich verstorben war.  “Ob das stimmt, weiß ich bis heute nicht. Kann sein, dass sie es einfach nur vertuschen wollten.“  Sein Täter wurde nie bestraft. Wie es ihm heute geht? „Sehr gut. Sehr gut heißt für mich, dass ich nachts mittlerweile nicht mehr von dem Priester träume.“ Aber noch heute, wenn er einen Geistlichen sieht, stockt ihm der Atem. „Ich hoffe, dass Kirchen wie Burgen und Schlösser als Ruinen enden werden, auf die man nur mit einem weinenden Auge zurückblicken kann“, sagt er abschließend.

„Aber sag’s bloß keinem“

Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche sind ein weltweites Problem. Der oscar-gekrönte 2016 erschienene US-Film „Spotlight“ behandelt Enthüllungen eines von der Kirche vertuschten Missbrauchsskandals, der sich Ende der neunziger Jahre im Erzbistum Boston zugetragen hatte. Der Film basiert auf einer wahren Geschichte. Die polnische Dokumentation „Sag’s bloß keinem“ (Pl. „Tylko nie mow nikomu“), die im Frühling dieses Jahres erschienen ist, deckt mit versteckter Kamera Fälle von Missbrauch durch polnische Priester auf – und wird von der polnischen Regierung und Kirche hart kritisiert. Die konfrontierten Täter, meist schon sehr alte Männer, versuchen mit „Dämonen“ und „dem Teufel“ ihre Taten zu Rechtfertigen. In Polen, wo die katholische Kirche den in Europa höchsten Stellenwert in der Gesellschaft hat, wird diese Thematik nach wie vor unter den Teppich gekehrt. So rät beispielsweise ein 2018 erschienenes Unterrichtsbuch, das bei dem polnischen katholischen Verlag „Wydawnictwo M“ erschienen ist, dass junge Mädchen bei sexueller Belästigung ihrem Täter nicht zeigen sollen, dass das Verhalten unpassend ist. Sie könnten ihn ja verärgern. Auch Miniröcke würden rechtfertigen, wenn sie belästigt oder gar missbraucht werden. „Ich kann nicht glauben, dass diese Scheiße heute noch gepredigt wird. Genau wegen dieser Denkweise ist mir das alles als Mädchen passiert.“ Die heute 32-jährige Polin Anna Zalewska* vergräbt die Hände in ihrem Gesicht, als sie mir gegenübersitzt. Ich bin nach fast zwanzig Jahren die erste Person außerhalb ihrer Familie, der sie ihre Leidensgeschichte anvertraut – unter der Bedingung, anonym zu bleiben. Jahrelang hat sie versucht, zu verdrängen, was ihr passiert ist. Zalewska war zwölf, als ihre Klasse einen neuen Religionslehrer bekam, Priester Bartlomiej*. „Er war jünger als die anderen Lehrer, er erzählte lustige Witze. Er hatte einen guten Draht zu uns Kindern“, erzählt die Frau mit einem traurigen Lächeln. In der kleinen polnischen Ortschaft, in der Zalewska aufwuchs, genoss der Priester Bartlomiej* auch unter den Erwachsenen ein hohes Ansehen. Dass er sie also aufforderte, nach der Schule mit ins Pfarrhaus zu kommen, war für sie damals eine Ehre. Es blieb nicht bei dem einen Treffen. Sie tauschten Handynummern aus, unter immer wieder neuen Vorwänden trafen sie sich in seinem Zimmer im Pfarrhaus. Bei jedem Mal wurde er etwas anzüglicher, lockerer und kam ihr immer näher. Bis ihr der damals 30-Jährige nach ein paar Wochen prompt gestand, dass er sich in sie verliebt hätte. „Und weißt du, wenn Erwachsene sich lieben, dann gibt es so Dinge, die sie miteinander machen. Aber es muss unter uns bleiben, ich möchte nicht, dass jemand eifersüchtig wird“, offenbarte er ihr. So kam es dazu, dass sie im Alter von zwölf Jahren zum ersten Mal mit ihm schlief. Sie erinnert sich noch gut an das hölzerne Kruzifix, das über seinem Sofa hing. Dem Sofa, auf dem sie mit ihm Sex hatte. „Ich hatte gar keine Ahnung, was wir da tun. Ich war ein Kind, es tat weh, es war unangenehm. Aber er hat mir immer wieder gesagt, wie besonders ich sei und wie sehr er mich liebte“, erzählt sie leise. „Dass er eigentlich als Priester dem Zölibat unterlag, wusste ich. Das Thema hatten wir sogar in der Woche davor mit ihm im Religionsunterricht behandelt.“

„Er sagte, sein Sperma sei wie die Eucharistie bei der Messe“

Er manipulierte sie aber derart, dass sie nichts hinterfragte. Er erklärte mir, wie ich ihm einen blasen soll, hat Dinge gesagt wie: „Mein Sperma ist so etwas wie die Liebe Gottes, wie die Eucharistie bei der Messe. So wichtig, wie das Vaterunser.“ Also tat sie es, und glaubte ihm. Das ist heute schwer vorstellbar, aber vor zwanzig Jahren in Polen genossen Priester eine derartige Anerkennung. „Sie wurden uns von klein auf als Übermenschen, als Gesandte Gottes dargestellt.“ Was er sagte, musste also stimmen. Die Affäre mit dem Priester ging über zwei Jahre. „Ich glaubte damals, in ihn verliebt zu sein. Aber das war meine allererste Erfahrung mit einem Mann, ich hatte davor nicht mal wen auf den Mund geküsst. Meine Freundinnen sprachen über erste Küsse, während ich schon Dinge getan hatte, die ich heute nicht einmal mit meinem Ehemann tue. Ich konnte und wollte also so oder so nicht mitreden“, sagt sie kopfschüttelnd. Am Montag saß sie bei ihm im Religionsunterricht, am Mittwoch hatte sie Sex mit ihm und am Sonntag ging sie zu ihm gemeinsam mit ihrer Familie in die Messe. Alles änderte sich, als Anna sich mit vierzehn in einen Jungen aus ihrer Parallelklasse verliebte. „Mit ihm hatte ich dann diese Dates auf der Parkbank, das Händchenhalten, die ganzen unschuldigen Dinge, die man in meinem Alter machen sollte. Nicht das, was ich mit dem Priester erlebt hatte…“. Priester Bartlomiej erfuhr davon und drohte ihr mit einer negativen Note, wenn sie nicht mit ihrem Freund schlussmachte. Erst da bekam Frau Zalewska wirklich Angst und erzählte alles ihrer Mutter. Daraufhin suchten die Eltern noch am selben Tag das Gespräch mit dem Pfarrer der Dorfkirche. „Sie wissen ja, wie Teenager-Mädchen so sind. Sie hat sich wahrscheinlich in ihn verliebt und hat jetzt Angst bekommen. Und wenn es so schlimm war, wozu ist sie dann immer wieder zu ihm hingegangen? Ich werde diesen Fall sicher nicht zur Anzeige bringen“, war alles, was der Pfarrer dazu zu sagen hatte. Also zeigten sie ihn selber an. „Dieses Gerichtsverfahren war lang, beängstigend und grauenhaft. Ich musste in allen Details erzählen, was mir widerfahren ist. Das Schlimmste war aber, dass die ganze Zeit über für ihn die Unschuldsvermutung galt. Und dass mir niemand von diesen alten, faltigen Männern oben auf der Richterbank so richtig glaubte. Der Priester hatte es so dargestellt, dass ich ihn damals verführt hatte. Ich war zum Zeitpunkt des Verfahrens ja selbst erst fünfzehn, irgendwann habe ich mich selbst gefragt, ob es vielleicht doch meine Schuld sei.“ Diese Schuldgefühle lassen sie auch bis heute nicht los.

„Er wurde nur in eine andere Pfarre verlegt und ist heute noch tätig“

Ihre Eltern standen hinter ihr, der Verteidiger des Priesters legte aber eine exzellente Show hin. “Alles, was wir damals geschafft hatten, war, dass Priester Bartlomiej verlegt wurde. In eine Pfarre 50 km von meinem Heimatort, und ein Verbot, mit Kindern zu arbeiten.“ Der Grund für die milde Strafe: Fehlende Beweise. Anna Zalewskas seitenlanges Geständnis sowie die anzüglichen SMS des Priesters an das Mädchen galten dabei nicht als solche. Es stand Aussage gegen Aussage. „Ich wollte das Ganze verdrängen. Aber ich habe jetzt eine kleine Tochter und als Mutter denkst du nochmal anders. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn meinem Kind so etwas widerfahren würde. Soviel ich weiß, arbeitet dieses Arschloch aber heute trotz des Verbots noch mit Jugendlichen.“ Tatsächlich: Eine nicht allzu aufwändige Recherche ergibt, dass der Priester auch heute noch in seinem Amt tätig ist. In der Ortschaft, in die er verlegt wurde. Der letzte Eintrag der Homepage der Pfarre zeigt ihn lachend bei einem Sommerfest der Kirche, um ihn herum stehen Kinder.

INFOBOX: Wie wird das heute in Österreich gehandhabt?

„Heute ist das Bewusstsein viel höher“ – Diözesane Kommission

„Früher war es auch möglich, dass verurteilte Täter einfach in eine andere Pfarre versetzt wurden“, erzählt Matthias Theil von der Diözesanen Kommission gegen Missbrauch und Gewalt. Heute ist diese Kommission dafür zuständig, Empfehlungen an den Bischof abzugeben, wie er mit Beschuldigten umgehen soll. Ein Versetzen wie früher sei daher nicht mehr möglich. In den letzten Jahren steige auch die Sensibilität der Menschen und es gebe einen Zuwachs an Meldungen über unkorrektes Verhalten, noch lange bevor etwas Schwerwiegendes passiert sei. Das Bewusstsein sei einfach größer geworden. „Heute traut sich eine 16-Jährige zu sagen, dass sexistische Witze oder unangenehme Nähe für sie nicht in Ordnung sind, und das auch zu melden. Vor dreißig Jahren hätte das nicht jeder ernstgenommen.“

„Im Zweifelsfall glauben wir dem Opfer“ – Interview mit Herwig Hösele, Klasnic Kommission

Die Klasnic Kommission ist eine Opferschutzanwaltschaft und ergreift und beschließt Maßnahmen und Initiativen –finanzielle und therapeutische – im Interesse von Betroffenen, die im Kindes- oder Jugendalter Opfer von Missbrauch oder Gewalt durch VertreterInnen und Einrichtungen der katholischen Kirche in Österreich geworden sind. Sie wurde 2010 von der ehemaligen Landeshauptfrau der Steiermark, Waltraud Klasnic, gegründet. Bis 20. Mai 2019 hat die Klasnic Kommission 2.107 positive Entscheidungen getroffen, das sind Leistungen im Wert von 28,720 Mio. €, die zuerkannt wurden:

Wie kann man sich die Arbeit der Kommission vorstellen?

Herwig Hösele: Die Betroffenen melden sich bei uns oder werden uns durch die Ombudsstellen vermittelt. Dann führen Psychologen Gespräche mit den Opfern durch. Auch wenn bei Gericht oder anderswo entschieden wird, dass der Täter meist mangels Beweise und Zeugen unschuldig ist, die Geschichte des Opfers aber plausibel erscheint, sind wir auf der Seite der Betroffenen. Natürlich prüfen wir nach, ob die Rahmeninformationen stimmen, wenn das der Fall ist, wird zugunsten des Opfers entschieden.

Die hoch sind die finanziellen Entschädigungen?

Die Opfer bekommen in der Regel von 5.000 € bis über 25.000 €, je nach Fall, wobei wir bewusst finanzielle Hilfeleistungen sagen, weil entschädigt kann das zugefügte Leid nicht werden.

Die meisten Fälle liegen Jahrzehnte zurück, wie sieht das heute aus?

Es ist besser geworden. Heute glaubt man den Kindern mehr. „Der Herr Pfarrer ist Autoritätsperson“ hieß es früher oftmals. Grundsätzlich ist Gewalt oft in geschlossenen Heimen und Internaten, die es heute nicht mehr gibt, an der Tagesordnung gewesen. Heute wird der Zölibat oft einfach anderswertig gebrochen, sprich die Geistlichen haben Affären mit Frauen.

Ist der Zölibat an sich das Problem?

Ich denke nicht. Ich denke, das Wesentliche ist die Ausbildung von Pädagogen und natürlich auch die Priesterausbildung. In vielen Priesterseminaren wurden früher einfach alle Bewerber genommen, weil der Nachwuchs einfach immer weniger wurde. Darunter fallen dann auch verhaltensauffällige Menschen. Mittlerweile ist die Aufnahme viel strenger geworden.

Sehenswert :

„Die Kinder lassen grüßen“

Ein beeindruckender Film der österreichischen Regisseurin Patricia Marchart, in dem Opfer sexuellen Missbrauchs seitens der katholischen Kirche gemeinsam mit ihr die Orte besuchen, an denen sie als Kinder missbraucht wurden. Zu sehen auf YOU Tube: https://www.youtube.com/watch?v=N-ncgDvASwk&t=8s&pp=ygUaZGllIGtpbmRlciBsYXNzZW4gZ3J1ZXNzZW4%3D

Vater Unser

in Allgemein

Humanist, Aufklärer, Kalenderforscher: Sepp Rothwangl ist tot 

in Pressemeldungen

Sepp Rothwangl
27.09.1950 – 18.01.2024

Sepp war viel. Großer und leidenschaftlicher Waldbauer im Mürztal. Aktivist für Säkularisierung. Zentraler Kämpfer für die Aufarbeitung kirchlicher Missbrauchsfälle. Früh verlor er seinen Vater. Seine Mutter meinte es gut mit ihm und schickte ihn nach Graz in ein katholisches Internat. Eine Entscheidung, die das Leben von Sepp maßgeblich tangierte. Er wurde Opfer sexualisierter Gewalt durch einen Priester. Zeit seines Lebens blieb dies eine offene Wunde für ihn – die manchmal mehr, manchmal weniger blutete. 

weiter lesen »

Erneut schwerwiegender Missbrauchsskandal in einer Abtei in der Westschweiz aufgedeckt

in Missbrauch, Schweiz


Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Radio Télévision Suisse (RTS) hat einen schwerwiegenden Missbrauchsskandal in der Augustiner-Chorherren-Abtei Saint-Maurice im Kanton Wallis, Schweiz, aufgedeckt. Neun Geistliche, darunter der ehemalige Abt Jean César Scarcella und sein Nachfolger Abt Roland Jaquenoud, werden mit sexuellem Missbrauch in Verbindung gebracht. Die Vorwürfe kamen im Zuge von Ermittlungen des Vatikans, die nach Anschuldigungen gegen Abt Scarcella eingeleitet wurden. Opferaussagen deuten darauf hin, dass der Missbrauch über einen langen Zeitraum stattfand. Sowohl Abt Scarcella als auch Abt Jaquenoud traten zurück, und ein Vertreter des Vatikans wird die Führung der Abtei übernehmen. Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen eingeleitet, und Voruntersuchungen fanden im Kloster statt.

Ganzer Artikel auf humanisten.at

Der Mann, der Merkel täuschte

in Deutschland, Medienberichte, Missbrauch, Politik, Pressemeldungen

Warum kommt die katholische Kirche nicht aus dem Missbrauchsskandal heraus? Die Erklärung findet sich in dramatischen Tagen Anfang 2010. Wie Deutschlands oberster Bischof Robert Zollitsch eine staatliche Aufklärung vereitelte – und wie eine Entscheidung der Kanzlerin bis heute nachwirkt.

Der Mann, der in den folgenden Wochen die Aufarbeitung monströser Verbrechen verhindern wird, steht am Verkaufswagen auf dem Münsterplatz und wartet auf seine Wurst. Mit oder ohne Zwiebeln, das ist die Frage, wenn man sich in Freiburg eine Münsterwurst kauft, aber in dem kurzen Film auf dem YouTube-Kanal des Erzbistums Freiburg aus dem Februar 2010 ist nicht zu erkennen, wie er sich entscheidet. Nur Wurst, Wecken und Einwickelpapier sieht man. Der Mann, schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, weißer Priesterkragen, nimmt das Essen entgegen. Er beißt ab.

Der kurze Film präsentiert einen, der bodenständig auftritt trotz seiner Position: Robert Zollitsch, damals 71 Jahre alt, Erzbischof von Freiburg, Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Er sagt in die Kamera, dass hier im Münster demnächst die Bischöfe aus dem ganzen Land Gottesdienste feiern werden, wenn sie erstmals ihre Vollversammlung in Freiburg abhalten. Er will glänzen in seiner Stadt. Er erzählt von der südbadischen Gastfreundlichkeit, von der Universität, von den Bächle, jenen kleinen Wasserläufen in der Innenstadt. Zollitsch schwärmt: „In Freiburg fängt Italien an.“

Doch in diesem Moment, im Februar 2010, rollt auf den Vorsitzenden und seine Kirche gerade ein gewaltiger Skandal zu. Schüler des katholischen Canisius-Kollegs in Berlin hatten kurz zuvor den Mut, zu enthüllen, dass sie von Jesuitenpatres sexuell missbraucht wurden. Der Rektor Pater Klaus Mertes glaubte ihnen. Es gab eine Pressekonferenz an dem Gymnasium, seither haben Menschen in ganz Deutschland berichtet, was ihnen angetan wurde: Geistliche begrapschten, quälten und vergewaltigten Kinder und Jugendliche.

Dieser Skandal türmt sich vor der Versammlung der Bischöfe in Freiburg auf wie eine Gewitterfront. Unter den Bischöfen igeln sich manche ein, andere ärgern sich über Pater Mertes, sehen in ihm einen Nestbeschmutzer. Man will auch was tun, agieren, nicht reagieren. Der Sekretär der Bischofskonferenz, Pater Hans Langendörfer, sagt: „Wir ducken uns nicht weg, sondern wir wollen die Aufklärung.“

Aufklärung, natürlich. Die Frage ist, was man darunter versteht. Betroffene erzählen damals ihre Geschichten. Anders als vorher wird ihnen geglaubt, die Öffentlichkeit nimmt sie ernst. Nur liegt es im Februar 2010 noch jenseits der Vorstellung der Kirchenchefs, dass Außenstehende hinter die Mauern ihrer Büros schauen. Dass Fremde Personalakten sichten, Gesprächsprotokolle auswerten oder gar die besonders geheimen Giftschränke öffnen. Wer hat Taten vertuscht? Welcher Personalchef hat Täter in eine andere Pfarrei versetzt und riskiert, dass er dort weiter Kinder missbraucht? Was wusste der jeweilige Bischof? Diese Fragen müssen Kirchenhierarchen heute immer wieder beantworten – peinlich genau, auch gegenüber Gutachtern, die sie notgedrungen selbst beauftragten, erst viele Jahre später. Aber 2010 ist das Thema in Deutschland neu, auch in der Politik. „Es war einfach eine kribbelige Situation, was mit Kirchen los war“, so beschreibt die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan in der Rückschau die Stimmung.

Anfang 2010 beginnen entscheidende Tage. Mehr als 13 Jahre ist das nun her. Mehr als 13 Jahre zieht sich der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche schon hin. Jahr um Jahr kommt Neues hoch, sexualisierte Gewalt und ihre Vertuschung werden an neuen Orten enthüllt, mit anderen handelnden Personen. Immer geht es auch darum, wie Bischöfe und ihre Mitarbeiter abwiegelten, Täter deckten oder sich nicht um Betroffene scherten. Immer wieder kommt die Frage auf, warum die Aufarbeitung so lange dauert. Wieso hat der Staat sie nicht erzwungen? Weshalb darf die Kirche die Aufarbeitung selbst in der Hand behalten?

Um neu aufzurollen, was 2010 gelaufen ist, hat Christ&Welt Bischöfe und Kirchenfunktionäre befragt sowie alle drei damals involvierten Bundesministerinnen. Zollitsch lehnte ein Interview über seinen Rechtsvertreter ab. Auch die frühere Kanzlerin Angela Merkel ließ ihre Büroleiterin absagen. Für die Recherche ausgewertet wurden Unterlagen des Kanzleramts und ein dieses Jahr erschienenes Freiburger Aufarbeitungsgutachten im Auftrag einer Kommission beim Erzbistum; dazu Pressemitteilungen, Zeitungsberichte und Fernsehsendungen. Natürlich ist der Wissensstand heute ein anderer, aber es ist eben auch die Gegenwart, die bis heute von den Ereignissen 2010 beeinflusst wird – und vom Handeln dreier Personen: Erzbischof, Kanzlerin und Justizministerin.

Da ist Zollitsch, der Mann mit der Bratwurst, der sich gern bescheiden gibt. Er trägt oft Baskenmütze statt Bischofsmitra, hat es eigentlich nicht nötig, laut zu werden, denn er sieht sich in einer Liga mit der Kanzlerin. Er ist Erzbischof, ein Mann der Geistlichkeit, ein Hirte und Seelsorger – doch das täuscht über seine andere Rolle hinweg: Er ist Akteur der Bundespolitik und kein unbedeutender. Wenn er im Herbst einlädt zum katholischen Sankt-Michaels-Empfang in Berlin, kommt die Kanzlerin persönlich.

Der Erzbischof gilt damals als kirchenpolitisch liberal, als seriöser Finanzfachmann; das sind ideale Voraussetzungen für den obersten Lobbyisten einer Kirche mit damals noch knapp 25 Millionen Mitgliedern und knapp fünf Milliarden Euro Einnahmen allein aus Kirchensteuern. All das macht ihn zu einem Berliner Player erster Ordnung – und, wie man heute weiß, einem Täuscher in der ersten Reihe.

Doch erst im April 2023 wird ein fast 600 Seiten langes Gutachten im Auftrag einer vom heutigen Erzbischof berufenen Kommission ergeben, dass Zollitsch reihenweise Missbrauchsfälle vertuschte und Täter heimlich versetzte, ohne sie zu bestrafen. Zunächst, von 1983 bis 2003, war er Personalreferent in Freiburg. Der damalige Erzbischof Oskar Saier ließ ihn die Missbrauchsfälle eigenständig regeln: „Robert, erledige du das!“, wird dieser im Gutachten zitiert. Weil Zollitsch 2003 Saier nachfolgte, konnte er die Vertuschung als Bischof fortsetzen. Die Gutachter werfen ihm sogar die Beseitigung von Akten vor. Sie kritisieren „weitgehende Rechtsignoranz“. Sie sehen eine „manifeste, vertuschungsgeprägte antijuridische Haltung des Erzbischofs Dr. Zollitsch im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen gegen Kleriker.“

Nichts davon dürfte im Februar 2010 jene Frau geahnt haben, auf die Zollitsch bei seinen Manövern in den nächsten Wochen dringend angewiesen sein wird: Angela Merkel. Sie ist verwundbar, denn in dieser Zeit ist die katholische Kirche noch viel tiefer in CDU und CSU verankert als heute. Und manchmal wirkt es, als müssten sich die Parteien das C bei den Bischöfen verdienen. Die Kanzlerin, evangelische Pfarrerstochter, muss achtgeben. Im Jahr zuvor hat sie Katholiken in ihrer Partei erzürnt, weil sie Papst Benedikt unverblümt kritisiert hatte – wegen dessen Umgang mit der ultrakonservativen Piusbruderschaft und dem Holocaust-Leugner Bischof Richard Williamson.

Merkel, die Protestantin, möchte als CDU-Chefin und Kanzlerin die Bischofskonferenz auf ihrer Seite haben. Der Katholizismus gehört zum Kohl’schen Erbe, das sie für die Union sichern muss. Und die Macht, die die Bischöfe der CDU leihen können, die will Merkel 2010 auch für sich haben. Insofern ist der Ärger um die Piusbrüder eine Irritation, ein Ausrutscher, der auch rausfällt aus der Logik der Kanzlerin: Sie schafft sich lieber Verbündete als Gegenspieler, sie moderiert Konflikte, statt Probleme zu fokussieren.

Nicht zu diesem Stil Merkels passt die Geschichte ihrer Justizministerin in der schwarz-gelben Regierung: Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat unter Kohl einen Konflikt ausgereizt. Sie war auch da Justizministerin, ein Profi, doch als es 1995 um den Großen Lauschangriff ging, der der Polizei das Abhören von Wohnungen erlauben sollte, gab die FDP dem Drängen der Union nach. Leutheusser-Schnarrenberger trat aus Protest zurück. Sie ging den ganzen Weg. Es rumste.

Der Erzbischof spricht den Missbrauchsskandal an

2010 kommt wieder ein Moment, in dem sie Haltung zeigt angesichts der Verbrechen, die Priester an Kindern und Jugendlichen begangen haben. Leutheusser-Schnarrenberger, evangelisch, legt sich mit Zollitsch an. Doch der eskaliert den Streit, telefoniert mit der Kanzlerin und konterkariert die Pläne der Ministerin. Die Rekonstruktion von Christ&Welt ergibt, wie es Zollitsch gelungen ist, den Staat aus der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals herauszuhalten, vor und hinter den Kulissen. Erst fuhr er einen beispiellosen öffentlichen Entlastungsangriff. Dann lancierte die Bischofskonferenz mithilfe das Kanzleramts einen Runden Tisch, der ein konkurrierendes Vorhaben der Justizministerin verdrängte und an dem die Kirche unbehelligt von fremder Aufarbeitung blieb.

Und heute, 13 Jahre später, sagt Leutheusser-Schnarrenberger: „Die Aufarbeitung des Missbrauchs ist keine Erfolgsgeschichte.“ Wie es dazu kam, soll hier rekonstruiert werden, jene Wochen, als sich entschieden hat, wie die Kirche mit der Gewitterfront umgehen würde, die auf sie zurollt vor ihrer Versammlung in Freiburg im Februar 2010.

Umgang mit Missbrauch: Druck auf EKD-Chefin Kurschus wächst

in Allgemein

Im Fall einer möglichen Vertuschung von sexueller Belästigung durch einen evangelischen Kirchenmitarbeiter wächst der Druck auf die EKD-Ratsvorsitzende, Annette Kurschus. Möglicherweise war einer der mutmaßlichen Betroffenen noch minderjährig.

Einem Mitarbeiter der evangelischen Kirche werden sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Nun steht zunehmend auch der Umgang der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland mit dem Fall in der Kritik. Berichte der „Siegener Zeitung“ legen nahe, dass Annette Kurschuss seit langem über die Missbrauchsvorwürfe gegen den Kirchenangestellten Bescheid wusste. Möglicherweise war sogar ein Minderjähriger von den Übergriffen betroffen.

EKD-Chefin will erst 2023 von Vorwürfen erfahren haben

Bei der EKD-Synode in Ulm hatte die Ratsvorsitzende am Dienstagabend beteuert, erst Anfang dieses Jahres durch eine anonyme Strafanzeige von den Vorwürfen erfahren zu haben. „Vorher hatte ich keine Kenntnis“, sagte Kurschus und kritisierte die „Siegener Zeitung“ dafür, „Andeutungen und Spekulationen“ zu verbreiten. Und: „Ich bin entsetzt und wütend, aktuell so furchtbare Schilderungen über eine Person zu erfahren, von der ich bislang nur ein anderes Gesicht wahrgenommen hatte“.

Mutmaßlicher Betroffener war möglicherweise minderjährig

Wie die „Siegener Zeitung“ nun berichtet, sei einer der mutmaßlichen Betroffenen zum Tatzeitpunkt möglicherweise erst 13 Jahre alt gewesen. Dies habe die zuständige Staatsanwaltschaft Siegen der Zeitung bestätigt.

Nach bisherigem Ermittlungsstand war nur bekannt, dass der Kirchenmitarbeiter im Kirchenkreis Siegen, wo Annette Kurschus lange Pfarrerin war, sexuelle Übergriffe gegenüber jungen volljährigen Männern begangen haben soll. An der Glaubwürdigkeit der Zeugen zweifeln nach Darstellung der Zeitung weder Staatsanwaltschaft noch die evangelische Kirche.

Staatsanwaltschaft befragt weitere Zeugen

Es sei noch nicht klar, ob die aufgekommenen Vorwürfe strafrechtlich relevant seien. Laut Staatsanwaltschaft sind weitere Befragungen geplant, unter anderem eines Mannes, der ebenfalls Anschuldigungen erhoben habe und dessen Alter „stutzig“ mache, zitiert die Siegener Zeitung Patrick Baron von Grotthuss, den Sprecher der Staatsanwaltschaft.

Berücksichtige man das Alter des Mannes sowie den mutmaßlichen Tatzeitraum, so „reden wir hier möglicherweise von einem zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Taten minderjährigen Betroffenen“.

EKD-Chefin bleibt bei ihrer Aussage

Ein Sprecher der westfälischen Landeskirche, der Kurschus als Präses vorsteht, sagte am Donnerstagabend der Katholischen Nachrichtenagentur mit Blick auf die Erklärung der EKD-Chefin vom Dienstag: „Ihr ist nichts hinzuzufügen.“ Kurschus bleibt also weiterhin bei ihrer Aussage.

Zeugen schildern den Sachverhalt anders

Dem steht ein Bericht der Siegener Zeitung vom Mittwoch gegenüber, laut dem zwei Personen eidesstattlich versichert haben, Kurschus habe bereits Ende der 1990er Jahre bei einem Gespräch in ihrem Garten von den Vorwürfen gegen den Kirchenmitarbeiter erfahren. Kurschus hatte am Dienstag erklärt, dabei sei zwar die sexuelle Orientierung eines inzwischen des Missbrauchs beschuldigten Kirchenmitarbeiters, „aber zu keiner Zeit der Tatbestand sexualisierter Gewalt thematisiert worden“.

Die Zeitungsredaktion gibt überdies an, einen Brief des Beschuldigten eingesehen zu haben, in dem dieser zwei Teilnehmern rechtliche Schritte wegen der erhobenen Beschuldigungen androht. Er beziehe sich in dem Schreiben explizit auf das Gespräch im Garten von „Annette“. Zudem soll Kurschus Patentante eines der Kinder des Beschuldigten sein, wie die Zeitung berichtet.

Kommission: Womöglich 200.000 Missbrauchsopfer durch Geistliche in Spanien

in Deutschland, Spanien
In Spanien könnten einem Bericht einer Untersuchungskommission zufolge in vergangenen Jahrzehnten mehr als 200.000 Menschen als Minderjährige von katholischen Geistlichen sexuell missbraucht worden sein. Die unabhängige Kommission veröffentlichte am Freitag ihre Untersuchungsergebnisse zur Pädokriminalität in der katholischen Kirche in Spanien.Der Bericht nennt keine genauen Zahlen, die Schätzung basiert aber auf einer Umfrage unter 8000 Menschen. Hochgerechnet gaben demnach 0,6 Prozent der 39 Millionen Erwachsenen in Spanien an, als Minderjährige von Geistlichen sexuell missbraucht worden zu sein. Somit könnten mehr als 200.000 Menschen betroffen gewesen sein, hieß es. Die Fälle stammen den Angaben zufolge vor allem aus dem Zeitraum zwischen 1970 und 1990.In dem Bericht wird auch das Verhalten der katholischen Kirche kritisiert. Ihre Reaktion auf Fälle von Pädokriminalität durch Geistliche sei „unzureichend“ gewesen. Vorgeschlagen wird unter anderem, einen Fonds durch den Staat einzurichten, um den Opfern Entschädigungen zu leisten.
Im Gegensatz zu Deutschland, Frankreich, Irland und den Vereinigten Staaten gab es im stark katholische Spanien bislang noch keine unabhängige Untersuchung dieser Art. Weltweit wurde die katholische Kirche bereits von einer Reihe von Skandalen zu sexuellem Missbrauch erschüttert.

Papst Pius XII. und der Holocaust

in Allgemein, Deutschland, Medienberichte, Politik, Pressemeldungen

Brief im Vatikan aufgetauchtPapst Pius XII. und der Holocaust

Stand: 08.10.2023 11:16 Uhr

Seit Jahrzehnten beschäftigt nicht nur die katholische Kirche die Frage, was Papst Pius XII. vom Holocaust wusste – und warum er sich nicht energisch dagegen stellte. Ein Brief schafft nun Klarheit.

Es ist ein vergilbtes Blatt Papier, eng beschrieben mit einer Schreibmaschine. Ein Brief, datiert auf den 14. Dezember 1942, der vor kurzem gefunden wurde in den päpstlich-vatikanischen Archiven. Und der eine neue Antwort gibt auf die seit Jahrzehnten diskutierte Frage: Was wusste Papst Pius XII. von den Verbrechen in Nazi-Deutschland?

Dieser Brief, sagt Giovanni Coco, sei so bedeutsam, weil „er der einzig verbliebene Beleg eines Schriftwechsels zwischen dem Sekretariat Pius XII. und dem deutschen Widerstand“ sei.

Coco sitzt in einem Nebenraum der Archive am Belvedere-Hof vor den Vatikanischen Gärten. Der Archivar und Historiker hat den mehr als 80 Jahre alten Brief entdeckt. Ein Dokument, in dem der Vatikan darüber informiert wurde, dass täglich die Leichen von 6.000 Menschen, vor allem Juden und Polen, vernichtet werden in den SS-Verbrennungsöfen in der Nähe von Rawa Rus‘ka, also im Vernichtungslager Belzec. Auch Auschwitz wird erwähnt.

Nachricht „aus dem Inneren des Dritten Reiches“

Die alarmschlagende Botschaft im Schreiben an das Sekretariat von Papst Pius: Die Nazis machten „tatsächlich ernst“ mit der Ausrottung der Juden und Polen. „Es ist eine Stimme aus dem Bauch des Drachens“, sagt Coco. Sie komme direkt aus „dem Inneren des Dritten Reichs“, mit Informationen, die im Widerstand kursierten. Der Vatikan-Archivar betont: „Diese Informationen, darüber haben wir nun Gewissheit, gelangten bis zu den Ohren des Papstes.“

Geschrieben ist der brisante Brief vom deutschen Jesuitenpater Lothar König, ein enger Bekannter des damaligen persönlichen Sekretärs von Papst Pius, Robert Leiber. König war für den bürgerlichen Widerstandszirkel Kreisauer Kreis tätig als eine Art Kurier und Verbindungsmann zum Vatikan. Sein Brief aus dem Dezember 1942 lag nach Pius‘ Tod jahrzehntelang unentdeckt im Vatikan.

Bis 2019, unter Papst Franziskus, aus dem Staatssekretariat große Mengen an Dokumenten aus der Zeit des Papstes, der die katholische Kirche im Zweiten Weltkrieg führte, den vatikanischen Archiven zur Verfügung gestellt wurden. Ungeordnet und durcheinander.

Archivar Coco machte sich an die Arbeit – bis ihm das brisante Papier in die Hände fiel. Der Brief sei ihm aufgefallen, erklärt Coco, „weil er nicht mit vollständigem Namen unterzeichnet war. Sondern mit ‚euer Lothar'“. Auch die Anrede „Lieber Freund“ haben ihn aufhorchen lassen: „Das gab den Anstoß, diesen Brief genauer zu lesen.“

Die Zweifel sind beseitigt

Ein Brief, der keine Zweifel mehr lässt: Papst Pius XII. war gut, war sehr gut informiert darüber, dass die Nazis systematisch und massenhaft Juden ermordeten. „Zu behaupten, dass es wenig Informationen gab oder dass sie wenig glaubhaft waren, ist wirklich schwierig“, sagt der beim Vatikan angestellte Coco. Hier spreche „eine vertrauenswürdige, sehr gut informierte Quelle, der man sehr viel Glauben schenkt“.

Bemerkenswert ist, dass dieser neue Beweis über Pius‘ Wissen der Nazi-Verbrechen direkt und ungefiltert aus dem Vatikan selbst kommt. Dort wurde Brisantes früher gerne zurückgehalten.

Nun aber darf der Finder offen reden. Das Interview mit dem ARD-Studio Rom hat sich Archivar Coco von seinem Vorgesetzten genehmigen lassen – und darf es dann ohne Aufsicht unter vier Augen führen.

Was bedeutet das für die Seligsprechung?

Zu Pius XII. läuft im Vatikan seit mehreren Jahrzehnten ein Verfahren zur Seligsprechung. 2009 wurde die „geschichtliche Phase“ dieses Prozesses abgeschlossen. Der damalige Papst Benedikt XVI. sprach Pius XII. „heroische Tugenden“ zu. Um die Seligsprechung für Pius abzuschließen, ist nach den Regeln der katholischen Kirche jetzt noch der Nachweis eines durch Pius vollbrachtes Wunders notwendig.

Ob das nun gefundene Dokument Einfluss auf das laufende Verfahren zur Seligsprechung von Papst Pius XII. haben wird? Briefentdecker Coco zuckt mit den Schultern: „Ich weiß nicht, ob dieses Dokument da Gewicht haben wird.“ Das liege in der Kompetenz des Dikasteriums für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, sagt Coco und ergänzt: „Zweifellos lässt es uns das geschichtliche Wissen vertiefen – über diesen Mann und seine Zeit.“

Coco weist darauf hin, dass Lothar König, der Kurier des Kreisauer Kreises, in dem Brief auch um Stillschweigen und Vorsicht bittet. Möglicherweise, meint Coco, liege darin eine weitere Erklärung für das öffentliche Schweigen Pius‘ zu den Naziverbrechen.

Missbrauchsstudie Augsburg soll noch in diesem Jahr starten

in Deutschland, Heimkinder, Medienberichte, Missbrauch, Pressemeldungen

Die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wird die Augsburger Missbrauchsstudie noch heuer auf den Weg bringen. Forscher und Betroffene haben den Ansatz gemeinsam entwickelt. Im Fokus stehen nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Familien.

Noch in diesem Jahr soll die geplante Missbrauchsstudie für das Bistum Augsburg beginnen. Das teilte die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) am Mittwoch mit. Die Erhebung „Sexualisierte Gewalt an Minderjährigen im Kontext der katholischen Kirche im Bistum Augsburg“ werde vom LMU-Department Psychologie verantwortet. Der Untertitel der Untersuchung laute: „Psychische Belastung im Lebensverlauf, interpersonelle Faktoren und transgenerationale Effekte“. Die Studie solle die Auswirkungen sexualisierter Gewalt auf das Leben der Betroffenen sowie deren Familien untersuchen.

Augsburgs Bischof Bertram Meier sagte zur LMU-Ankündigung: „Dass die Sichtweise der Betroffenen in dieser Studie im Mittelpunkt stehen soll, dass die Betroffenenvertreter und -vertreterinnen sogar den Ansatz der Studie mitentwickelt haben, ist ein gutes Beispiel wirklicher Partizipation.“ So könne der gesamte Forschungsprozess ein wichtiges Element der notwendigen Aufarbeitung sein.

Forschungsprojekt von Aufarbeitungskommission initiiert

Zur Zielgruppe des Projekts erklärte die LMU alle Personen, die im Bistum Augsburg in ihrer Kindheit oder Jugend im Alter von bis zu 21 Jahren sexuelle Belästigung, Missbrauch oder Gewalt im kirchlichen Umfeld oder durch Geistliche, Ordensleute oder Laien in der Gemeinde erfahren hatten.

Die Initiative für das Forschungsprojekt ging von der Unabhängigen Aufarbeitungskommission und dem Unabhängigen Betroffenenbeirat im Bistum Augsburg aus. Auch der Forschungsansatz wurde gemeinsam entwickelt. Beide Gremien begleiten die wissenschaftliche Erhebung. „Die gewonnenen Ergebnisse werden unabhängig davon, wie sie ausfallen, frei zugänglich veröffentlicht“, so die Universität.

Betroffene und Familienmitglieder werden interviewt

Wenn die Betroffenen jeweils zustimmten, würden auch Partnerinnen und Partner, erwachsene Kinder oder andere nahestehende Personen interviewt. Zusätzlich zu den Interviews im ersten Teil des Projekts sollen die Erkenntnisse laut LMU in einem zweiten Teil durch eine anonyme Online-Befragung ergänzt werden.

Dass es eine eigene Missbrauchsstudie für das Bistum Augsburg geben soll, hatten die Diözese und ihre Unabhängige Aufarbeitungskommission bereits im Januar 2023 erklärt. Das Bistum finanziert die Erhebung zwei Jahre lang; das Geld dafür stammt den Angaben zufolge nicht aus Kirchensteuermitteln.

Bundesweite Studie zum sexuellen Missbrauch 2018 veröffentlicht

2018 war im Auftrag der katholischen Deutschen Bischofskonferenz erstmals eine bundesweite Studie zu sexuellem Missbrauch durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige veröffentlicht worden. An der interdisziplinären Untersuchung waren Wissenschaftler verschiedener Universitäten beteiligt. Nach ihren Standorten Mannheim, Heidelberg und Gießen wird sie auch als MHG-Studie bezeichnet. Sie wurde zum Ausgangspunkt weiterer Aufarbeitungsprojekte in den einzelnen Bistümern.